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Strafrechtsreform in der Türkei

27. September 2004

In einer Sondersitzung hat das türkische Parlament eine umfassende Strafrechtsreform verabschiedet. Die Neuordnung der fast 80 Jahre alten Gesetzessammlung ist Voraussetzung für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen.

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Erdogan hat sich durchgesetztBild: dpa


Rechtzeitig vor der Präsentation des neuen EU-Fortschrittsberichts am 6. Oktober 2004 entrümpelt die Türkei ihr veraltetes, noch aus dem Jahr 1926 stammendes Strafrecht. Die fast 350 Gesetze umfassende Reform wurde in langwierigen Gesprächen zwischen der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der Opposition ausgehandelt. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen nannte das Gesetzespaket zur Strafrechtsreform "ein Jahrhundertwerk":

Zeitungsredakteur im Gefängnis in der Türkei
Von wegen Meinungsfreiheit! Zeitungsredakteur Ocak Isik Yurtcu, Träger des Preises von 'Reporter ohne Grenzen', sitzt im GefängnisBild: AP

Um die Meinungsfreiheit zu stärken, wird der berüchtigte Volksverhetzungs-Paragraph 312 geändert, der in der Vergangenheit häufig zur Verurteilung unliebsamer Politiker und Journalisten benutzt wurde. Künftig zählt eine Äußerung erst dann als Volksverhetzung, wenn sie die "gesellschaftliche Sicherheit" gefährdet. Einige Rechtsexperten bemängeln, dass diese Änderung von den Gerichten sehr restriktiv ausgelegt werden könnte. Möglicherweise wird im Laufe der Plenumsberatungen noch nachgebessert.

Türkei: Kurdendemonstration, türkische Polizei
Türkische Polizei räumt KurdendemonstrationBild: AP

Zur besseren Bekämpfung der Folter sollen Staatsbeamte, die Häftlinge misshandeln, bis zu zehn Jahre ins Gefängnis; bei Folterungen mit Todesfolge lautet die Höchststrafe lebenslänglich. Bei übertriebener Gewaltanwendung gegen Demonstranten droht Polizisten künftig bis zu fünf Jahre Haft. Um diese Änderungen im Alltag wirksam werden zu lassen, kommt es sehr auf die Gerichte an; bisher haben türkische Polizisten von den Richtern nur wenig zu befürchten gehabt.

Angehörige in Trauer, Frauen mit Kopftuch
Angehörige in Trauer nach den Terroranschlägen in Istanbul 2003Bild: AP

Die Rechte der Frauen sollen mit einer ganzen Reihe von Änderungen gestärkt werden. So wird erstmals der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe eingeführt. Abgeschafft werden die bisherigen Strafnachlässe für so genannte Ehrenmorde - die Tötung von Frauen, die mit angeblich unsittsamem Verhalten die Ehre der Sippe beschmutzt haben sollen. Auch die Vorschrift, wonach ein Vergewaltiger straffrei ausgeht, wenn er sein Opfer heiratet, wird gestrichen. Um das Unwesen der so genannten Jungfrauentests einzudämmen, die in den vergangenen Jahren mehrere Mädchen in den Selbstmord getrieben haben, dürfen solche Untersuchungen nur noch auf Anordnung eines Richters oder eines Staatsanwalts ausgeführt werden. Rechtexperten fordern, das Einverständnis der betroffenen Frau zur zusätzlichen Bedingung zu machen.

Stand mit Datteln auf einem Markt in Istanbul, Türkei
Markt in IstanbulBild: AP

Das neue Strafgesetzbuch sieht zudem erstmals Strafen für Menschenschmuggel und für Organhandel vor. Die Strafen für Taschendiebe werden erheblich verschärft - künftig drohen ihnen bis zu sieben Jahre Haft. Mit Hilfe des neuen Strafrechts sollen auch der sexuelle Missbrauch von Kindern, die Korruption und Schwarzbauten besonders in den Großstädten stärker bekämpft werden. Bei Alkohol am Steuer riskieren Autofahrer in der Türkei künftig zwei Jahre Gefängnis. Umstritten ist das Vorhaben, Sex zwischen Minderjährigen mit bis zu zwei Jahren Gefängnis zu bestrafen.

Türkische Kurdinnen protestieren gegen die geplante Verschärfung des Ehebruchgesetzes
Türkische Kurdinnen protestieren gegen die geplante Verschärfung des EhebruchgesetzesBild: AP

Überschattet wurde die Strafrechtsreform von der Diskussion über das geplante strafrechtliche Verbot des Ehebruchs. Nach Angaben aus der AKP-Parlamentsfraktion war ursprünglich für Ehebrecher eine Höchststrafe von ein oder zwei Jahren geplant. Die Staatsanwaltschaft sollte erst nach einer ausdrücklichen und schriftlichen Beschwerde eines betrogenen Ehepartners tätig werden dürfen. Heftige Kritik von Seiten der EU zwang die Regierung in Ankara jedoch zum Einlenken: Auf das Gesetz wird (vorerst?) verzichtet. (afp)