"Stille Revolution in Rumänien"
4. November 2015DW: Der rumänische Premier Victor Ponta hat seinen Rücktritt bekanntgegeben. "Ich will nicht gegen die Menschen kämpfen", sagte er nach den Massenprotesten in Bukarest und anderen Städten. Anlass der Proteste war die Brandkatastrophe im Bukarester Lokal "Colectiv", bei der mehr als 30 Menschen ums Leben gekommen sind. Ist dieser Rücktritt genug?
Vlad Mixich: Das ist er - aber er kommt leider zu spät. In den vergangenen Jahren war Victor Ponta immer wieder in große Skandale verwickelt: Seine Doktorarbeit ist ein Plagiat, viele der von ihm ernannten Minister wurden wegen Korruption angeklagt, einige auch verurteilt. Sogar er selbst steht unter Korruptionsverdacht. Eigentlich ist es verblüffend, dass er überhaupt so lange im Amt geblieben ist. Mehrmals hat er sich geweigert zurückzutreten, sogar nachdem Millionen von Rumänen gegen ihn gestimmt haben bei der Präsidentschaftswahl 2014. (Anm. d. Red.: Damals galt Ponta als aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat, aber der deutschstämmige Klaus Johannis wurde überraschend zum Staatschef gewählt.) Erst eine Tragödie mit 32 Toten und die Proteste von 25.000 Demonstranten haben ihn letztendlich dazu bewegt zurückzutreten.
Dies ist ein Sieg der sogenannten "Generation Facebook". In den sozialen Medien fordern viele jetzt einen "kompletten Neustart des Systems" - und unter anderem auch Neuwahlen. Wird das zu einem echten Neuanfang führen?
Die "Generation Facebook" klagt die gesamte politische Klasse in Rumänien an - und das zu Recht. Denn viele sehr korrupte Politiker kommen aus allen Parteien. Und so manche Entscheidungen im Parlament werden ohne Rücksicht auf den Wunsch der Bürger nach mehr Effizienz und Transparenz getroffen. Aber es ist unmöglich, eine politische Elite über Nacht zu verändern. Eines müssen die rumänischen Politiker nach diesen Protesten lernen - und sie werden es auf die schmerzhafte Weise lernen, wenn es anders nicht geht: Sie können den prüfenden Blick der jungen Generation in Rumänien nicht länger ignorieren. In dieser Generation sind gebildete und weitgereiste EU-Bürger, die wissen, wie man Informationen findet, bewertet und teilt.
Für 2016 sind in Rumänien Parlamentswahlen geplant. Die Wahlen vorzuziehen würde allerdings kaum große Veränderungen bringen - und das ist es auch nicht, was die Demonstranten gefordert haben. Sie riefen: "Korruption tötet!" Es geht ihnen um Respekt, Verantwortung und Transparenz von Seiten der gesamten politischen Klasse, nicht nur um eine bestimmte Partei.
Gibt es derzeit die Chance auf einen echten Kampf gegen Korruption in Rumänien?
Ja, die gibt es. In den vergangenen Jahren ist es in Rumänien zu vielen spontanen Protesten gekommen, die über soziale Medien organisiert wurden. Diese Menschen würden nicht auf die Straße gehen, wenn sie nicht die Hoffnung hätten, dass sie Veränderungen anstoßen können. Es gibt bereits eine große Veränderung: Die Bürger sehen, wie Minister oder Bürgermeister wegen Korruption im Gefängnis landen. Das ist einzigartig in der Geschichte des Landes. Noch nie zuvor waren mächtige Politiker hinter Gittern, ohne dass eine blutige Revolution zu ihrer Verhaftung geführt hätte. Deshalb beginnen die Menschen ein Gefühl dafür zu haben, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet. Und wenn man sieht, dass selbst die Mächtigsten für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, verändert sich auch etwas in der Mentalität des einzelnen Bürgers. In Rumänien erleben wir gerade eine stille und friedliche Revolution. Und sie entfaltet eine große Kraft.
Sie sind sowohl Journalist als auch Arzt. Welches ist Ihre Diagnose in Bezug auf das politische System Rumäniens?
Das rumänische politische System leidet unter den Metastasen der Korruption. Aber es gibt Antikörper, die dagegen kämpfen. Sie sind draußen auf den Straßen, sie sind in den sozialen Medien - und sie werden immer mehr.
Vlad Mixich ist ein rumänischer Journalist, Buchautor und Arzt. Unter anderem ist er für das unabhängige rumänische Nachrichtenportal Hotnews.ro tätig.