Stadttour entführt ins Berlin der Kabarett-Ära
28. Dezember 2018Es ist kalt an diesem Morgen in Berlin. Ein Grüppchen internationaler Studenten der Humboldt-Universität steht am U-Bahnhof Nollendorfplatz und lauscht einem Mann, der auswendig aus einem Buch zitiert. Es handelt von ebendiesem Berlin, doch entwirft es das Bild einer gänzlich anderen Stadt. Einer ärmeren, aber auch wilden Hauptstadt, die sich gerade noch nicht mit dem Faschismus eingelassen hat.
Die erste englische Stimme des Berliner Untergrunds
Brendan Nash, ein 54-jähriger in London geborener Ire, liest Auszüge aus einem der Bücher Christopher Isherwoods über das Berlin der späten 1920er-und frühen 30er-Jahre.
Mit 25 Jahren zog Isherwood 1929 nach Berlin. Was er hier sah und die Begegnungen, die er hier machte, inspirierten ihn zu einigen seiner bekanntesten fiktionalen, aber auch autobiografischen Werke. Als Beobachter von der Warte eines ausländischen Zeitzeugen erschloss er sich Berlin literarisch. "Ich bin eine Kamera", schrieb er 1939 in "Goodbye to Berlin" (Leb wohl Berlin).
1966 begeisterte eine Musical-Adaption des Romans den Broadway: "Cabaret". Das süffige Porträt des Nachtlebens im zwielichtigen Kit Kat Klub wurde dankbar von Hollywood aufgegriffen und brachte der Verfilmung mit Liza Minelli 1972 einen Oscar ein.
Aber der Einfluss von Isherwoods Berlin-Schilderungen geht weit über "Cabaret" hinaus. "Er war nicht der einzige, der damals über Berlin schrieb, aber der einzige, der das auf Englisch tat. Sein Werk erreichte so das größte Publikum", erzählt Brendan Nash der DW.
Und dieses Publikum war fasziniert vom Spirit der deutschen Hauptstadt. Der kanadische Kulturhistoriker Joseph Pearson, der heute selbst in Berlin lebt, beschreibt die Weimarer Republik als "eine Zeit der Angst", aber auch eine von Hedonismus, sexuellen Freiheiten und künstlerischen Experimenten geprägte.
In der Tat war das Weimarer Berlin als Bruchkante sozialer Konventionen bekannt. Viele Frauen stellten die Geschlechterrollen infrage und trotzten patriarchalen Konventionen, indem sie ökonomisch unabhängig wurden.
Die Kabarett-Szene schuf Raum für sexuelle Minderheiten, sich vergleichsweise offen auszudrücken. Eine Reihe schwuler und lesbischer Lokale entstand und konnte sich gar über die Weimarer Jahre halten. Auch wenn der Paragraf 175 Geschlechtsverkehr zwischen Männern unter Strafe stellte.
Bevor die Nazis dieser Oase der Modernität ein Ende setzten wurde Isherwood von dieser Stadt und ihren Bewohnern verführt. Mit seinen Büchern sollte er sie unsterblich machen.
Die Rückkehr der Goldenen Zwanziger in der Popkultur
Nun versucht Brendan Nash, diesen Geist wiederzuerwecken mit seiner Tour durch Schöneberg, das später zum LGBTI-Viertel (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) Berlins wurde.
Lange schon war der Weimar-Zeitgeist nicht mehr so präsent. Popkulturell befeuert, hat das Interesse am Weimar-Berlin zuletzt stark zugenommen. Volker Kutschers historische Krimis, angesiedelt in den Goldenen Zwanzigern, wurden in Deutschland zum literarischen Hit und in viele Sprachen, etwa Englisch und Spanisch übersetzt.
Auf den Romanen fußt auch die erfolgreiche Fernsehserie "Babylon Berlin", die via Netflix das Weimarer Berlin in Wohnzimmer rund um den Globus streamte.
Die dunkle Seite des Hedonismus
Der Hype um das Berlin der röhrenden Zwanziger kann dessen wenig glamouröse aber umso dramatischere Kehrseite nicht überblenden: Die Zerbrechlichkeit der deutschen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg mündete in einem politischen Klima steter Instabilität und Gewalt und letztlich im Aufstieg des Nationalsozialismus.
Die verheerenden wirtschaftlichen Verhältnisse waren auch Isherwood nicht entgangen. Er beschrieb, wie es bei der sexuellen Befreiung vielmehr auch um Arbeitslose ging, die nichts zu verkaufen hatten, außer ihren Körpern.
Kulturhistoriker Pearson betont, ein Merkmal dieser Ära sei Prostitution gewesen. Homo- und Heterosexuelle, oftmals von Minderjährigen.
Was aber macht die Weimarer Republik für gegenwärtige Betrachter so faszinierend?
Pearson, der Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Hauptstadt essayistisch verhandelt, ist überzeugt: "Die Geschichte, die wir von der Vergangenheit erzählen, sagt vor allem etwas darüber aus, wer wir heute sind." Sorgen, Zukunftsängste... "einige dieser Gefühle haben wir auch heute. Wir wollen Spaß haben und die ganze Zeit lachen."
Die Vorstellung einer Parallelität zwischen jenen stürmischen Zeiten und unserer Gegenwart gewinnt mehr und mehr an Resonanz. "Vieles von dem, was gerade jetzt geschieht, erinnert uns an die Weimarer Republik", sagt Pearson und verweist auf Rechtsaußen-Parteien, die den öffentlichen Diskurs medial monopolisieren, sowie auf die Spaltung des linken Lagers. Zugleich aber seien Elend und Verzweiflung von damals mit heute nicht zu vergleichen.
Zustimmung kommt von Professor Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam: "Die Weimarer Republik hatte mit vielen Problemen zu kämpfen, die wir heute nicht haben", sagt er. Auch die gute wirtschaftliche Lage und die Robustheit der demokratischen Institutionen verböten einen Vergleich.
Wenn Brendan Nashs Tour durch das Berlin des Christopher Isherwood ein Bild wilder Partys und Kabarett-Shows zeichnet, so weist er auch auf den täglichen Kampf ums Überleben damals hin.
Umso mehr Menschen Isherwood lesen würden, desto mehr würden sich damit beschäftigen, was während der Weimarer Republik passierte, glaubt Pearson. Seiner Meinung nach wiederhole sich Geschichte nicht. Oft aber reime sie sich.