Stadiongesänge für die Märtyrer im Iran
20. Juni 2018Die Bilder gingen um die Welt. Feiernde Menschen mit grünweißroten Flaggen, sie lagen sich in den Armen und tanzten auf Tischen. Alt und Jung, Männer und Frauen. 1:0 hatte die iranische Nationalmannschaft ihren WM-Auftakt gegen Marokko gewonnen. Der erste Sieg bei einer Weltmeisterschaft seit zwanzig Jahren setzte Emotionen frei, die der mächtige Klerus um Ajatollah Chamenei eigentlich verhindern möchte.
Große Zusammenkünfte sind den religiösen Führern verdächtig, erst recht nach den Protesten gegen das Regime in den vergangenen Monaten. Immer wieder waren Menschen vor Fußballfeiern gewarnt worden, doch dann gab es sie doch, in Restaurants oder Kinos. Und auf den Straßen.
Nach der Revolution wurde Fußball verboten
Von den 32 WM-Nationen wird wohl keine Mannschaft so sehr durch Religion geprägt wie der Iran, das Land, das sich als Zentrum des schiitischen Islams versteht. Team Melli, wie die Auswahl bezeichnet wird, macht eines deutlich: Die vom Fußball-Weltverband FIFA geforderte Trennung zwischen Sport und Politik ist eine Illusion. Im Gegenteil: In der Islamischen Republik bauen sie aufeinander auf. Aber was sind die Ursachen dafür?
Nach der Revolution 1979 wurde Fußball wie andere Sportarten zunächst verboten. Zu frivol, lautete die Begründung der Geistlichen, zu weit entfernt von der reinen islamischen Lehre. Eine Nationalmannschaft wurde später berufen. Während des Ersten Golfkrieges zwischen dem Iran und dem Irak untersagten die Religionsführer dem Team 1985, Spiele auf neutralem Boden zu bestreiten. Die FIFA suspendierte den Iran.
Zuschauerinnen mit angeklebten Bärten
Der Durchbruch gelang dem Nationalteam mit der Qualifikation für die WM 1998 in Frankreich, wo sie dann sogar die USA besiegte. Weltweit jubelten Iraner auf den Straßen, Hunderttausende waren es allein in Teheran. "Es war das erste Mal nach der Revolution, dass die iranische Gesellschaft ein total anderes Bild gezeigt hat", sagt Ayat Najafi, iranischer Filmemacher mit Wohnsitz in Berlin. "Das war ein großer Schock für die iranische Regierung. Niemand wusste, dass Fußball so populär ist. Und dass viele Menschen ein anderes Leben wünschen." Ein offeneres Leben.
Ayat Najafi hat 2006 die Dokumentation "Football Under Cover" gedreht. Darin wird die Reise von Berliner Fußballerinnen nach Teheran gezeigt. Frauen dürfen zwar im Iran mit Kopftüchern Fußball spielen, aber der Besuch von Männerpartien ist ihnen nicht gestattet. Sittenwächter glauben, dass sie vor dem "vulgären Verhalten" männlicher Fans geschützt werden müssen. Trotzdem versuchen Frauen immer wieder, sich in Stadien zu schmuggeln, manchmal mit weiter Kleidung und angeklebten Bärten. Und regelmäßig werden sie dabei in Gewahrsam genommen, zuletzt 35 Frauen im März beim Teheraner Lokalderby Persepolis gegen Esteghlal.
Konservative lehnen Sondertribüne für Frauen ab
Der moderate Staatspräsident Hassan Rohani hat - wie schon sein Vorgänger Mahmud Ahmadinedschad - eine Aufhebung des Verbots in Aussicht gestellt. Doch konservative Köpfe der religiösen Schattenregierung lehnen sogar eine Sondertribüne für Frauen ab. Für fortschrittliche Kräfte ist es schwer zu ertragen, dass weibliche Fans von gegnerischen Nationalteams in die iranischen Stadien durften. Auch jene des irakischen Nationalteams, ebenfalls schiitisch geprägt, das seine Heimspiele aus Sicherheitsgründen im Iran bestreiten musste. Der Regisseur Ayat Najafi schildert eine Begegnung mit Nationalspielern, die als Vorbilder verehrt werden: "Viele von ihnen unterstützen den Frauenfußball, aber in Medien wird davon selten berichtet."
Die Fernsehsender im Iran sind eng mit den Religionsführern verbunden. International tätige Nationalspieler werden hingen oft den Reformern zugeordnet. Der langjährige Mannschaftskapitän Masoud Shojaei solidarisierte sich 2009 mit der Grünen Bewegung: In etlichen Städten hatten Menschen gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl protestiert - sie wurden vom Regime brutal zurück geschlagen. Zudem kritisierte Shojaei Korruption im Fußball und sprach sich gegen das Stadionverbot von Frauen aus. Er finde es traurig, dass seine Mutter, Schwester und Ehefrau ihn nicht persönlich unterstützen können. Nun in Russland begleiten viele Frauen ihr Nationalteam.
Iranern ist der Wettkampf gegen Israelis untersagt
Masoud Shojaei, der sechs Jahre in Spanien gespielt hatte, machte sich bei den Religionsführern noch unbeliebter - und überschritt eine "rote Linie". Shojaei wurde 2017 gemeinsam mit seinem Kollegen Ehsan Hajsafi aus dem Nationalteam verbannt. Sie hatten mit ihrem Verein Panionios Athen gegen Maccabi Tel Aviv gespielt. Iranern ist der sportliche Wettkampf gegen Israelis untersagt. Nach großem Fanprotest wurde der Ausschluss aufgehoben.
"Das Stadion ist oft Raum von politisch-religiösen Äußerungen, die im Sinne des Systems sind", sagt Christoph Becker, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der seit Jahren die Verbindungen zwischen Sport und Religion im Iran beleuchtet. Becker erinnert an ein Länderspiel gegen Südkorea im Oktober 2016, am Vorabend von Aschura. An diesem Tag gedenken schiitische Muslime den Gefallenen der Schlacht von Kerbela, die im Jahr 680 die Trennung zwischen Schiiten und Sunniten besiegelt hatte.
Kleriker wollten das Klatschen untersagen
Der iranische Fußballverband hatte das Spiel gegen Südkorea verlegen wollen, doch die FIFA verbat sich eine religiös motivierte Einmischung. So wiesen Kleriker die Stadionbesucher an, schwarze Kleidung zu tragen und auf das Klatschen zu verzichten. Während des Spiels erinnerten Transparente und Gesänge an die Märtyrer. Der iranische Verband erhielt dafür von der FIFA eine Geldbuße von 46.000 Euro. "Aber diese Strafe nimmt der Verband in Kauf, dafür ist dann immer Geld da", sagt Christoph Becker.
Das politisch-religiöse Spannungsfeld ist allgegenwärtig. Das spürte auch der Nationaltrainer des Irans. Der Portugiese Carlos Queiroz beschrieb Berührungsängste gegenüber seinem Team, von möglichen Testspielgegnern und Sponsoren. Womöglich aus Sorge vor einem Konflikt mit den USA, deren Regierung einen harten Kurs gegen den Iran eingeschlagen hat. Queiroz wünscht sich eine differenzierte Betrachtung. Und dazu gehört auch, dass der Iran zeitweilig einen Kapitän christlichen Glaubens hatte: Andranik Teymourian.