Staatsfolter-Prozess: Blick in Syriens Abgründe
12. Januar 2022"Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt". Worte des KZ-Überlebenden Jean Amery. Mit ihnen begann die Bundesanwaltschaft ihr Plädoyer im ersten Prozess weltweit gegen Angehörige des syrischen Foltersystems.Mehr als 30-fachen Mord wirft sie dem ehemaligen Geheimdienstoberst Anwar R. vor, 4000 Fälle von Folter und schwerwiegender Freiheitsberaubung, mindestens drei Fälle von sexualisierter Gewalt.
Eine lebenslange Freiheitsstrafe haben die Bundesanwälte für den hageren 58-Jährigen mit dem charakteristischen Muttermal unter dem linken Auge gefordert. Und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Damit wäre eine Entlassung nach 15 Jahren unmöglich. Am Donnerstag wird das Urteil gesprochen.
Der Blick in den Abgrund des syrischen Unterdrückungssystems eröffnet sich ausgerechnet an einem geradezu absurd idyllisch anmutendem Ort. Direkt am majestätisch dahinströmenden Rhein, unweit einer malerischen Altstadt, liegt das rote Sandsteingebäude des Oberlandesgerichts Koblenz.
Seit knapp zwei Jahren wird hier über geradezu monströse Verbrechen verhandelt. Es wird das syrische Unterdrückungssystem im Allgemeinen beleuchtet - und die individuelle Verantwortung des ehemaligen Geheimdienstobersts Anwar R.
"Caesar"-Fotos, Folterüberlebende, Experten
Es ist ein gewaltiges Verfahren. Über 60 Zeugen traten auf, darunter viele Folterüberlebende. Experten lieferten Gutachten ab. Beweismittel wurden gesichtet, darunter auch Bilder des ehemaligen Militärfotografen "Caesar". Diese Fotos von Todesopfern des Foltersystems werde sie nie vergessen, sagte die Vorsitzende Richterin Anne Kerber im Februar. Dass in den Fängen der Geheimdienste mindestens 102.000 Menschen spurlos verschwanden wurde in Koblenz behandelt, ebenso der dokumentierte Foltermord an über 14.000 Menschen.
Eine bemerkenswerte Leistung, findet der Berliner Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck im DW-Interview, besonders unter Corona-Bedingungen. Kaleck ist Gründer des European Centers für Constitutional and Human Rights, ECCHR, das syrische Folterüberlebende als Nebenkläger in dem Koblenzer Prozess vertritt.
Das entscheidende Fazit dieses Prozesses ist für ihn, "dass ein solcher Prozess möglich ist in Deutschland. Das heißt also: Staatsfolter, anderswo begangen, kann auch von deutschen Gerichten aufgearbeitet werden."
Möglich wird das durch das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht. Verbrechen gegen die Menschlichkeit können auch dann von der deutschen Justiz verfolgt werden, wenn die Taten nicht in Deutschland begangen wurden und weder Täter noch Opfer Deutsche sind.
Folter: Vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck
Speziell geht es in Koblenz um das, was sich im Gefängnis Al-Khatib in Damaskus zwischen April 2011 und September 2012 zugetragen hat. Der studierte Jurist Anwar R. war dort nach eineinhalb Jahrzehnten Karriere beim Geheimdienst Leiter der Ermittlungsabteilung. Er besaß ein eigenes Büro, einen Dienstwagen, stand gut 30 Untergebenen vor.
Das Gefängnis gehörte zur Abteilung 251 des allgemeinen Geheimdienstes, zuständig für die Sicherheit in Damaskus und Umgebung. Al-Khatib hat sich spätestens mit dem Beginn der syrischen Revolution Anfang 2011 in einen Ort unfassbaren Grauens verwandelt, erfüllt von den Schreien der Gefolterten, mit unsäglichen Haftbedingungen für die Gefangenen, die nicht wussten, ob sie diese Hölle jemals wieder lebend verlassen würden.
Denn mit den Protesten hatte sich die Arbeitsweise der Geheimdienste grundlegend geändert. Gefoltert wurde jetzt nicht mehr allein, um Informationen zu erpressen. Jetzt ging es um Abschreckung, um Rache - und um die physische Vernichtung Oppositioneller.
Bereits die bloße Inhaftierung unter diesen Umständen komme dauerhafter Folter gleich, hatte Richterin Kerber bereits im Februar festgehalten. Niemand bestreitet die vielen Toten und die Folter in Al-Khatib, auch nicht der angeklagte Geheimdienstoberst. Und doch weist er jede Schuld von sich. Nie habe er persönlich gefoltert oder die Anordnung dazu gegeben, sagte er in einer persönlichen Erklärung am vergangenen Donnerstag.
Das Gegenteil zu beweisen ist schwierig. Der internationale Menschenrechtsanwalt Fritz Streiff erläutert gegenüber der DW am Rande des Prozesses: "Je höher man kommt in der Hierarchie, desto weniger direkt ist eine mögliche Täterschaft." Die Bundesanwaltschaft betont deshalb in ihrem Plädoyer: Anwar R.s "Tatbeitrag ergibt sich aus seiner Stellung innerhalb der Hierarchie der Abteilung 251".
Mitläufer wider Willen?
Die Anwälte des Geheimdienstmannes widersprechen in ihren Plädoyers – und fordern Freispruch. Sie stellen Anwar R. als Mitläufer wider Willen dar. Schon zu Beginn der Proteste habe er sich innerlich vom Regime losgesagt und Gefangenen geholfen, so weit es in seiner – wie sie sagen: sehr begrenzten - Macht gelegen habe. Seine Vorgesetzten hätten ihm misstraut und ihn im Juni 2011 entmachtet. Danach sei er nur noch formell Leiter der Unterabteilung Ermittlungen gewesen, bis er im September 2012 in eine andere Abteilung versetzt wurde.
Seine Privilegien als Oberst wie etwa einen Dienstwagen konnte Anwar R. allerdings behalten. Ende 2012 flieht Anwar R. mit seiner Familie aus Syrien nach Jordanien. Er schließt sich der Opposition an, die den hochrangigen Überläufer feiert. 2014 ist Ruslan sogar Teil einer Delegation der Opposition bei Gesprächen über die Zukunft Syriens in Genf.
ECCHR-Chef Kaleck erkennt das Dilemma an, dass im ersten Prozess gegen des syrische Unterdrückersystem ausgerechnet jemand auf der Anklagebank sitzt, der sich von diesem abgewandt hat. "Auf der anderen Seite: Das Überlaufen macht natürlich die Aufarbeitung der begangenen Verbrechen nicht hinfällig" sagt Kaleck. "Und wenn ich als verantwortlicher Offizier für eine Folterabteilung den Tod und die Misshandlung von Dutzenden von Menschen zu verantworten habe, dann kann ich das ja nicht dadurch rückgängig machen, dass ich überlaufe."
Vom Zeugen zum Angeklagten
Was Anwar R. möglicherweise als besonders bitter empfindet: Die Ermittlungen gegen ihn nahmen ihren Anfang ausgerechnet damit, dass er sich im August 2017 einem Beamten des Landeskriminalamtes in Stuttgart als Zeuge zur Verfügung stellte. Der sammelte Beweise gegen einen anderen Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im Zuge der Befragung sprach R. freimütig über seine eigene Rolle im Geheimdienstapparat – auch über Folter und Tod in der Abteilung 251. Diese Informationen gingen an die "War Crimes Unit" des Bundeskriminalamtes. Damit begannen die Ermittlungen gegen Anwar R., 2019 wurde er verhaftet.
Dass der Stuttgarter Polizist die "War Crimes Unit" eingeschaltet hat, erscheint verständlich. Als Zeuge sagte er in Koblenz aus, als er Anwar R. genauer nach Folter gefragt habe, hätte der geantwortet: "Bei so vielen Verhören an einem Tag kann man nicht immer höflich sein. Bei bewaffneten Gruppen muss man manchmal strenger sein."
Am Ende: Vor allem müde
Zum Ende des Prozesses wirkt Anwar R. merklich gealtert und müde, bemerkt die syrische Prozessbeobachterin Luna Watfa gegenüber der DW. Die Journalistin war selbst in Syrien in Haft. In Koblenz sitzt sie an jedem Verhandlungstag im Gericht. Sonst habe sich Anwar R. aber im Laufe des Prozesses nicht verändert, hat Watfa beobachtet. "Er trägt immer noch den gleichen Gesichtsausdruck wie zu Beginn der Verhandlung". Gefühlsregungen lässt Anwar R. nicht erkennen.
Wenn Anwar R. im Gerichtssaal sitzt, blickt er auf zwei Türen. Über denen prangen lateinische Inschriften. Übersetzt steht über der einen "Es geschehe Gerechtigkeit", über der anderen "Mit gleicher Waagschale", also unparteiisch. Vielleicht hat sich Anwar R. das einmal übersetzen lassen. Jedenfalls hat er in seinem Schlusswort angekündigt, er werde das Urteil vom Donnerstag akzeptieren. Er glaube an das deutsche Gesetz und die deutsche Justiz.