Staatsfolter in Syrien: Der Al-Khatib-Prozess
13. Januar 2022Worum geht es im Al-Khatib-Prozess?
Es handelt sich um die weltweit erste gerichtliche Aufarbeitung dessyrischen Foltersystems. Angeklagt ist der ehemalige Geheimdienstoberst Anwar R.. Vorgeworfen werden dem 58-Jährigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge eines, wie es in der Anklage heißt, "ausgedehnten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung".
In ihrem Plädoyer wirft die Bundesanwaltschaft Anwar R. konkret mindestens 30-fachen Mord vor, 4000 Fälle von Folter und schwerwiegender Freiheitsberaubung sowie mindestens drei Fälle von sexualisierter Gewalt. Die Taten sollen sich zwischen April 2011 und September 2012 zugetragen haben. Begangen wurden diese Verbrechen im berüchtigten Gefängnis Al-Khatib im Zentrum von Damaskus. Es gehört zur Abteilung 251 des allgemeinen Geheimdienstes. Dieser Abteilung gehörte auch Anwar R. an: Als Leiter der Ermittlungsabteilung.
Nach über 100 Verhandlungstagen vor dem Oberlandesgericht Koblenz, der Vernehmung von mehr als 60 Zeugen, den Gutachten zahlreicher Experten sowie der Sichtung umfangreichen Beweismaterials wie etwa der sogenannten Caesar-Fotos steht fest: In diesem Gefängnis wurden unvorstellbare Grausamkeiten begangen, Menschen auf brutalste Weise gefoltert, unter katastrophalen Haftbedingungen festgehalten und häufig auch getötet.
Allein an diesem Ort des Schreckens und der Demütigung festgehalten zu sein, sei mit Folter gleichzusetzen, stellte das Gericht im Februar 2021 fest. Zugleich äußerte sich das Gericht damals auch zur Rolle der syrischen Geheimdienste und damit auch ihrer Mitarbeiter. Das Assad-Regime habe zur Zersetzung der Gesellschaft und zur Schaffung eines allgemeinen Klimas des Misstrauens eine Maschinerie der Angst geschaffen.
Weil die Anwar R. vorgeworfenen Straftaten im Kontext des syrischen Unterdrückungssystems insgesamt stehen, wurde in Koblenz viel Zeit und Mühe darauf verwandt, diesen Apparat, seine Struktur und Arbeitsweise aufzuarbeiten. Der Prozess in der westdeutschen Stadt hat wichtige Vorarbeit für zukünftige Prozesse gegen Angehörige des syrischen Unterdrückungsapparats geleistet. Das weltweit mit Spannung erwartete Urteil soll an diesem Donnerstag verkündet werden.
Wer ist Anwar R.?
Der 58-jährige Anwar R. ist eine schillernde Figur mit vielen Gesichtern: Geheimdienstoberst, Überläufer, Mitarbeiter der Opposition. Er selbst stellt sich als Mitläufer wider Willen in einem mörderischen System dar, als jemand, der mit seinem - angeblich sehr begrenzten - Einfluss half, wo er konnte.
Zumindest bis zum Ausbruch der Revolution allerdings hatte der Karrierebeamte eineinhalb Jahrzehnte lang keine Probleme mit seiner Rolle im System Assad. Es ist nicht ohne Ironie, dass der Ex-Geheimdienstler durch den Al-Khatib-Prozess international Bekanntschaft erlangt hat. Das Gesicht des hageren Mannes mit dem sich lichtendem Haar, dem charakteristischen Muttermal auf der Wange und dem buschigen Schnauzbart sind mittlerweile weit über syrische Exilkreise hinaus bekannt.
Der studierte Jurist arbeitet zunächst bei der Polizei. 1995 wechselt Anwar R. zum allgemeinen Geheimdienst. Dort macht er rasch Karriere. 2008 übernimmt R. die Abteilung Ermittlungen innerhalb der Abteilung 251. Die ist für die Sicherheit von Damaskus und Umgebung zuständig und betreibt auch das Al-Khatib Gefängnis. Mit der Karriere kommen Privilegien: Spätestens ab Januar 2011 hat Anwar R. als Oberst ein eigenes Büro im ersten Obergeschoss des Al-Khatib-Gefängnisses. R. verfügt über einen Dienstwagen und steht 30 bis 40 Untergebenen vor.
Im Dezember 2012 desertiert Anwar R.. Er flieht mit seiner Familie nach Jordanien. Den Entschluss zur Flucht habe er, beteuert Anwar R., bereits im Frühjahr 2011 gefasst, kurz nach Beginn der syrischen Revolution. Eigener Aussage zufolge habe ihn abgestoßen, dass die Geheimdienste von einem Instrument der Informationsbeschaffung zu einem Instrument der Rache und Einschüchterung geworden seien.
Aber er habe einen sicheren Weg suchen müssen, um seine Familie mitzunehmen. Hätte er diese zurückgelassen, wäre deren Leben gefährdet gewesen. In Jordanien schließt sich der hochrangige Überläufer der Opposition an. Anwar R. nimmt sogar an der zweiten Syrien-Friedenskonferenz 2014 in Genf teil.
Mit einem Visum der deutschen Botschaft in Amman fliegt der Geheimdienstoberst mit seiner Familie 2014 nach Berlin. Dort erhält er 2015 Asyl. Aber er fühlt sich von Agenten des syrischen Geheimdienstes verfolgt. Im Februar 2015 geht er deshalb zur Polizei, berichtet von seinen Befürchtungen, seiner Geschichte - und unterschreibt die Anzeige inklusive Nennung seines Dienstranges als Oberst.
Im August 2017 wird Anwar R. vom Landeskriminalamt in Stuttgart als Zeuge in einem anderen Verfahren gegen einen mutmaßlichen syrischen Kriegsverbrecher vernommen. Anwar R. fühlt sich offensichtlich sicher genug, um auch über seine eigene Rolle im Unterdrückungsapparat zu sprechen.
Die Informationen werden weitergereicht an die "War Crimes Unit" des Bundeskriminalamtes in Meckenheim bei Bonn. Im Beamtendeutsch wird sie etwas umständlich "Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafrecht" genannt (ZBKV). "Deutschland darf kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher sein", das ist der Leitsatz der Beamten in ihrem hochgesicherten Betonbau in der beschaulichen Provinz.
Die korrespondierende "War Crime Unit" beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe leitet daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen Anwar R. ein. Im Februar 2019 wird der Ex-Oberst schließlich verhaftet - zu seiner grenzenlosen Überraschung.
Gleichzeitig wird der frühere Geheimdienstmitarbeiter Eyad A. festgenommen, ein rangniedrigerer Mitarbeiter der Abteilung 251. Auch Eyad A. hatte sich bei einer Zeugenaussage selbst belastet. Im April 2020 begann in Koblenz der Prozess gegen die beiden Ex-Geheimdienstler. Das Verfahren gegen Eyad A. wurde abgetrennt: Im Februar 2021 wurde er zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Über die Revision von Eyad A. gegen sein Urteil ist noch nicht entschieden.
Welche Strafe hat Anwar R. zu erwarten?
Die Bundesanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer für Anwar R. eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert. In Deutschland gilt der Grundsatz, dass jeder Strafgefangene eine Aussicht auf ein Leben in Freiheit haben muss. Das bedeutet: Auch wenn eine "lebenslange Freiheitsstrafen" verhängt wird, kommen die Gefangenen üblicherweise nach spätestens 15 Jahren frei.
Die Bundesanwaltschaft hat für Anwar R. aber auch die Feststellung der "besonderen Schwere der Schuld" gefordert. Würde das Gericht dem folgen, wäre eine Entlassung nahezu unmöglich.
Die Verteidiger von Anwar R. haben auf Freispruch plädiert. Anwar R. habe unter enormen Druck gestanden, um sein eigenes Leben und das seiner Familie gefürchtet und sei nicht frei in seinen Entscheidungen gewesen. Weder habe R. selbst gefoltert noch Anweisungen dazu gegeben.
Es wäre ungerecht, Anwar R. stellvertretend für das Assad-Regime zu verurteilen. Anwar R. selbst versuchte sich in einer abschließenden Erklärung als Opfer und Spielball stärkerer Mächte darzustellen. Er werde das Urteil akzeptieren, ließ er zum Ende vortragen, er glaube an das deutsche Gesetz und die deutsche Justiz. Ein Schuldspruch könnte allerdings in der Zukunft Deserteure und Überläufer davon abhalten, mit der Justiz zu kooperieren.
Warum wird der Fall in Koblenz verhandelt – und was ist das Weltrechtsprinzip?
Der Fall wird vor dem Oberlandesgericht Koblenz verhandelt, weil der gemeinsam mit Anwar R. verhaftete Eyad A. in Rheinland-Pfalz festgenommen worden war, im Zuständigkeitsbereich des Koblenzer Gerichts.
Im Grunde gehören Fälle wie dieser vor den Internationalen Strafgerichtshof, IStGH, in Den Haag. Aber Syrien ist kein Vertragsstaat des IStGH. Theoretisch könnte der UN-Sicherheitsrat dem IStGH die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien zuweisen. Das allerdings haben Russland und China durch ihr Veto verhindert.
Als Ausweg bleibt die nationale Justiz - auch wenn die Taten rund 3000 Kilometer entfernt im Ausland verübt wurden und weder Täter noch Opfer Deutsche sind. Möglich wird das durch das sogenannte Weltrechtsprinzip, das im 2002 verabschiedeten Völkerstrafgesetzbuch verankert ist.
Die Idee dahinter: Verbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit betreffen nicht nur einzelne Menschen oder Länder - sie betreffen die internationale Gemeinschaft als Ganze. Sollte keine internationale Instanz zur Aufarbeitung dieser Verbrechen zur Verfügung stehen, können nationale Gerichte diese Lücke füllen.
Woher stammen die Beweise?
Die Verbrechen wurden vor einem Jahrzehnt begangen, knapp 3000 Kilometer vom Gericht entfernt, Deutsche waren nicht involviert. Eine Herausforderung für die Ermittler, an gerichtsfeste Beweise zu kommen. Deutsche Behörden begannen schon kurz nach der syrischen Revolution 2011 damit, Menschenrechtsverbrechen in Syrien zu untersuchen.
In einem sogenannten Strukturermittlungsverfahren sammelte die Bundesanwaltschaft Informationen über die Situation in Syrien insgesamt - ohne Bezug zu konkreten Beschuldigten.
Zugleich wurden mehrere personenbezogene Ermittlungen eingeleitet. Die "War Crime Units" der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamtes arbeiten dabei auch mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, die sich die Dokumentation der Verbrechen zur Aufgabe gemacht haben. Prominentes Beispiel: Die Commission for International Justice and Accountability, CIJA, die mehr als 900.000 syrische Originaldokumente gesammelt und über 2000 Zeugen befragt hat. Diese Arbeit legte die Grundlage für den Al-Khatib-Prozess.
Entscheidend für den Prozessverlauf aber waren die vielen Aussagen von Zeugen, darunter sehr viele Folterüberlebende. 2015 hatten zahlreiche Menschen aus Syrien Deutschland erreicht. Sie alle brachten ihre Geschichte mit - oft eben auch Schicksale brutaler Inhaftierungen und Folter. Damit hatten die Ermittelnden Zugriff auf eine große Anzahl von Opfern - und manchmal eben auch auf die Täter, wie im Fall von Anwar R.