Spurlos verschwunden
3. November 2015Es ist nicht das erste Mal, dass Flüchtlinge spurlos aus Aufnahmezentren in Deutschland verschwinden, doch in Niedersachsen war die Zahl kürzlich besonders hoch. Nach Angaben der "Neuen Osnabrücker Zeitung" verschwanden in den vergangenen Tagen in Niedersachsen rund 700 der etwa 4000 kurzfristig in Notunterkünften untergebrachten Flüchtlinge. Viele hatten sich nicht einmal registrieren lassen, was der erste Schritt eines Asylverfahrens ist. Die Behörden wissen nicht, wer sie sind und wohin sie gegangen sind. Die Zahl aus Niedersachsen mag höher sein als im Durchschnitt, doch entsprechende Meldungen kommen zurzeit aus Aufnahmeeinrichtungen in ganz Deutschland.
Verboten ist es nicht. Die Flüchtlinge haben "grundsätzlich das Recht, sich frei zu bewegen und dementsprechend auch die Unterkünfte zu verlassen", sagt Matthias Eichler, der Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums. Daher könnten die Behörden "auch nicht sagen, wie viele Menschen sich auf eigene Faust weiter auf den Weg machen."
Gleichwohl hat dieser neue Aspekt des Flüchtlingsthemas Aufsehen erregt. Das Verschwinden der Flüchtlinge sei ein weiteres Zeichen für den "Kontrollverlust des Staates", warnt Jochen Oltmer, Migrationsexperte an der Universität Osnabrück. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte sich bereits vor einem Monat beklagt, manche Flüchtlinge glaubten, sie könnten sich selbst irgendwohin zuweisen: "Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, sie haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte Kilometer durch Deutschland zu fahren", empörte sich de Maizière im Zweiten Deutschen Fernsehen. Die große Zahl unregistrierter Flüchtlinge ist aus Sicht des Innenministers ein "ernstes" Problem.
Nach der Rechtslage in Deutschland müssen sich Asylbewerber bei den Behörden melden, sobald sie deutschen Boden betreten. Doch die Praxis sieht längst anders aus: Seit Wochen überqueren täglich Tausende die Grenze, die Behörden sind mit der Registrierung hoffnungslos überfordert.
Keine Nachricht
"Die Flüchtlinge hinterlassen uns keine Nachricht, wir wissen nicht, warum sie weggehen", beschreibt Migrationsexperte Oltmer die Lage. Über ihre Beweggründe gibt es deshalb nur Spekulationen. Vielleicht wollen die verschwundenen Flüchtlinge nicht in den ländlichen Gegenden bleiben, in die viele zunächst untergebracht werden. Vielleicht gehen sie dorthin, wo bereits Verwandte und Freunden in Deutschland leben, oder in Regionen, die ihnen attraktiver erscheinen. Vielleicht ziehen sie sogar weiter in andere Länder, zum Beispiel nach Skandinavien.
"Es gibt keine Rechtsgrundlage, Flüchtlinge am Verlassen einer Erstaufnahmeeinrichtung zu hindern", so Edith Avram vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Auch Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten bei den Erstaufnahmezentren hindern sie nicht am Weggehen.
Der Osnabrücker Migrationsexperte Oltmer stellt das deutsche Verteilsystem der Flüchtlinge infrage, weil es Integration erschwere und Netzwerke behindere. Schließlich, so Oltmer, seien Netzwerke für Flüchtlinge äußerst wichtig: Bereits länger ansässige Verwandte und Freunde, die beim Umgang mit Behörden helfen können und es den Neuankömmlingen erleichtern, sich in Deutschland zurechtzufinden und sich hier niederzulassen.
Ein Sicherheitsproblem sieht Jochen Oltmer nicht im Verschwinden der Menschen und fügt hinzu, die meisten von ihnen versuchten nicht, sich der Registrierung bewusst zu entziehen.
Sich zurechtfinden
Es könnte auch sein, dass manche Flüchtlinge nicht wissen, wo genau sie sich in Deutschland befinden. Neuankömmlinge wüssten oft nicht genau, wohin sie gebracht worden seien, so ein Sprecher der Stadt Delmenhorst. Daher hätten die Behörden Deutschlandkarten in den Aufnahmeeinrichtungen aufgehängt, damit sich die Flüchtlinge orientieren könnten.
Wenn sie das Erstaufnahmezentrum allerdings ohne förmliche Registrierung auf eigene Faust verlassen und die Polizei greift sie auf, gelten sie als illegale Einwanderer, und der gesamte Registrierungsprozess beginnt wieder von Neuem. Daher, meint Migrationsforscher Oltmer, solle die Registrierung im Interesse aller Beteiligten viel schneller gehen: Der Staat erlange seine Kontrolle zurück, Flüchtlinge bekämen Klarheit über ihren künftigen Status, und die Behörden bekämen mehr Planungssicherheit.