"Fall Eriksen kann sogar Kräfte wecken"
14. Juni 2021DW: Am vergangenen Samstag ist der dänische Fußball-Nationalspieler Christian Eriksen im Spiel der Europameisterschaft gegen Finnland nach einem Herzstillstand zusammengebrochen. Noch auf dem Platz wurde er erfolgreich reanimiert. Nach der Partie gab es heftige Kontroversen darüber, ob es richtig war weiterzuspielen - auch, weil die Entscheidung darüber von der UEFA in die Hände der Spieler gelegt wurde. Die Alternative wäre eine Fortsetzung am folgenden Tag gewesen. Glauben Sie, dass Fußballspieler in so einer Situation unter Schock überhaupt in der Lage sind, eine rationale und richtige Entscheidung zu treffen?
Lothar Linz: Das ist eine gute Frage, wie rational die Entscheidung ist. Aber dahinter steckt die These, es müsste unbedingt eine rationale Entscheidung sein. Und dies kann man infrage stellen. Ich habe Respekt davor, dass man die Autonomie von Menschen achtet und sagt: Selbst wenn es mich als Beobachter irritieren mag, ist derjenige trotzdem kompetent, für sich die passende Entscheidung zu treffen. Im Nachhinein kann man natürlich hinterfragen, wie zufrieden die Leute damit sind. Aber in jenem Moment war das sicherlich ein sehr gangbarer Weg.
Glauben Sie denn, dass die Spieler psychisch in der Lage gewesen wären, die Partie durchzustehen, wenn man sie am Folgetag, nur 20 Stunden nach dem Ereignis, fortgesetzt hätte?
Das ist insofern schwer zu beurteilen, weil die Geschichte positiv ausgegangen ist. Schwieriger wäre es, wenn Eriksens Zustand kritisch geworden wäre, wenn er mit dem Tod ringen würde oder sogar gestorben wäre. Dann hätte das eine ganz andere Dynamik gewonnen. Dann kommt man in einen Ausnahmezustand, der in beide Richtungen gehen kann. Ich kenne Fälle, wo in ähnlichen Situationen eine "Jetzt erst recht! Wir spielen für diesen Spieler!"-Stimmung entstanden ist. Es kann aber auch sein, dass ein Schockzustand auftritt, unter dem ein Spielen nicht möglich ist.
Im konkreten Fall kann ich mir schon vorstellen, dass es auch einen Tag später möglich gewesen wäre. Die Gefahr ist natürlich groß, dass es ein paar Prozent Leistungsfähigkeit gekostet hätte, weil die Konzentration vielleicht nicht maximal ausgerichtet ist. Aber wir gucken nicht in die einzelnen Spieler hinein. Es ist sicherlich immer auch Interpretationssache.
Viel Platz für Interpretationen
Die Dänen spielen am Donnerstag gegen Belgien. Wie stellt man die Mannschaft sportpsychologisch darauf ein?
Wichtig ist, dass es einen Raum gibt, wo das Erlebte verarbeitet werden kann. Im Teamsport heißt das, sowohl einen Gemeinschaftsraum als auch einen persönlichen Raum anzubieten. Das bedeutet nicht, die Menschen zu zwingen, darüber zu sprechen oder es zu verarbeiten. Wichtig ist, ein Angebot zu machen. Das kann ein Sportpsychologe oder eine Sportpsychologin sein oder auch eine andere vertraute Person. Wir haben manchmal die Vorstellung, wie die Reaktion auf so eine Situation sein müsste. In Wirklichkeit aber sind die Reaktionen unterschiedlich. Es ist elementar zuzulassen, dass jeder anders mit so einer Situation umgeht.
Gibt es sportpsychologische Tricks, wie man dann auf die Spieler einwirkt - etwa das Positive an der Situation zu unterstreichen: Es ist gut, dass es auf dem Spielfeld passiert ist und nicht morgens allein im Badezimmer?
Ich würde das nicht als Trick bezeichnen. Es geht darum, gemeinsam zu einer Sichtweise zu kommen und wie immer im Leben zu versuchen, wieder eine positive Haltung einzunehmen. Man muss hier gar nicht tricksen. Es war schon immer ein Potential einer Mannschaft, in solchen Problemsituationen zu versuchen, jetzt gemeinsam für diesen Spieler zu agieren. Das kann manchmal sogar Kräfte im Team wecken, die vorübergehend leistungsförderlich sind. Aber das würde ich dabei nie in den Vordergrund stellen.
In erster Linie geht es um Fürsorge. Ich versuche, den Leuten zu helfen, dass sie das Ganze gut verarbeiten können. Und für viele Menschen kann es hilfreich sein, wenn das in der Gemeinschaft passiert. Wir kennen das vom Tod von Prominenten, wenn sich trauernde Menschen an öffentlichen Plätzen versammeln, um dort Blumen zu hinterlegen.
Aus sportpsychologischer Sicht muss dieses Ereignis vom Samstag also keine nachhaltigen negativen Auswirkungen auf das Abschneiden der Dänen bei der EM haben?
Es kann, muss aber nicht. Das ist nicht pauschal zu beantworten. Es hängt sehr viel davon ab, wie es jetzt aufgearbeitet wird. Die Antworten bekommen wir frühestens dann gegen die Belgier, möglicherweise noch nicht mal dann, weil immer viel Interpretationsspielraum bleibt. Die Dänen haben ihr Spiel gegen Finnland verloren, dadurch sind sie auch sportlich in einer speziellen Situation. Wie will ich das als Beobachter auseinanderdividieren?
Lothar Linz ist als Sportpsychologe seit 1997 im Leistungssport tätig. Er leitet an der Trainerakademie Köln den Bereich Trainer-Mentoring und begleitet dort Bundestrainer in ihrem Job. Als psychologischer Betreuer verschiedener Nationalmannschaften war er auch bei drei Olympischen Spielen vor Ort.
Das Interview führte Tobias Oelmaier.