Pegida schockiert Europa
22. Dezember 2014DW: Frau in't Veld, die Pegida-Leute nennen sich nicht "deutsche" Patrioten, sondern "europäische" Patrioten. Wie europäisch ist Pegida oder wie spezifisch deutsch?
Sophie in't Veld: Ich war überrascht über die Namenswahl. Andererseits gibt es ja viele lokale Spielarten der Bewegung, die den Begriff "europäisch" nicht benutzen. Ich glaube, jeder ist schockiert, und zwar nicht so sehr angesichts der Botschaft dieser Bewegung, denn die sehen wir ja überall in Europa, und auch in den USA gibt es eine ganz ähnliche Debatte. Aber jeder ist schockiert, weil das in Deutschland stattfindet. Jeder dachte, dass Deutschland immun gegen solche Tendenzen sei und dass es in Deutschland in diesem Punkt ein so gewaltiges Tabu gebe, dass das niemand für möglich gehalten hatte. Ich glaube, das ist jetzt ein Weckruf.
Haben Sie in den Niederlanden oder in anderen europäischen Ländern ähnliche Bewegungen?
Ich glaube, das nimmt in verschiedenen Ländern unterschiedliche Formen an. Aber die Kernbotschaft ist überall die gleiche. Sie ist gegen Einwanderung gerichtet, gegen die Globalisierung, gegen die EU, eigentlich gegen die Moderne. Und noch einmal: In den USA gibt es eine ganz ähnliche Debatte. Wir denken leicht, das habe etwas mit Unzufriedenheit mit der Europäischen Union zu tun. Aber ich glaube, es geht um diese Furcht vor radikalen geopolitischen Veränderungen auf der Welt, vor der Revolution der Informationstechnologie, die die Welt, in der wir leben, umkrempelt. Die Menschen haben Angst vor den weitreichenden und schnellen Veränderungen. Und dies ist eine Reaktion darauf.
Wenn Sie sagen, dass die Botschaft in verschiedenen Formen daherkommt, dann meinen Sie vermutlich, dass in anderen Ländern politische Parteien für diese Botschaft stehen, etwa die UKIP in Großbritannien, die Nationale Front in Frankreich oder die Partei der Freiheit in den Niederlanden?
Ja, in vielen Ländern ist das so. Aber zum Beispiel die Tea-Party-Bewegung in den USA ist keine Partei. Doch auch wenn die Art, wie die Botschaft vermittelt wird, und die Struktur dieser Bewegungen unterschiedlich sind, sind doch die Botschaft und die zugrundeliegenden Empfindungen ziemlich gleich.
Wie gefährlich ist dieses Gefühl, dem man überall in Europa begegnet, wir würden vom Islam oder allgemein von Flüchtlingen überschwemmt?
Das ist auf jeden Fall gefährlich. Aber ich glaube, das wirkliche Problem ist nicht die Einwanderung, sondern ich glaube, dass sich die Furcht der Menschen nur in einem Widerstand gegen Einwanderung niederschlägt. Viele dieser Pegida-Märsche im Osten Deutschlands finden ja in Gegenden statt, in denen es kaum Muslime gibt. Also, wogegen protestieren die eigentlich? Deshalb glaube ich, da kommt eine ganz andere Angst zum Ausdruck, nämlich die vor den raschen, tiefgreifenden Veränderungen unserer Welt, und es wird immer Gruppen geben, die die Verlierer dieser Veränderungen sind. Wir leben tatsächlich in einer Zeit, in der viele Menschen von außerhalb der EU zu uns kommen, aber das ist nicht der Grund unserer Probleme.
In Deutschland reagieren Politiker sehr unterschiedlich auf Pegida. Die einen sagen, manche der Anliegen der Demonstranten seien durchaus berechtigt. Andere dämonisieren die Bewegung. Wie sollte die Politik Ihrer Meinung nach reagieren?
Wir sollten sie sicher nicht dämonisieren. Aber manche deutsche Politiker haben die Demonstranten auch mit Recht dazu aufgerufen, sich vom, sagen wir, faschistischen Teil der Bewegung klar zu distanzieren. Doch es gibt auch Leute, die wirkliche Sorgen haben und sich vor den angesprochenen Veränderungen ängstigen, Leute, die sich über diese Bewegung äußern und von den Anti-Einwanderungs-Elementen verführt werden. Ich glaube, wir sollten diese Leute sehr ernstnehmen. Wir sollten ihnen auch Lösungen ihrer Sorgen anbieten. Aber was wir nicht tun sollten, das ist, uns auf die falsche politische Debatte einzulassen. Wir müssen sehr klar sagen: Wir sind offen für Einwanderung, wir brauchen Einwanderung. Wir müssen außerdem einen Ruf verteidigen, wenn es darum geht, Flüchtlingen und Asylbewerbern Zuflucht zu gewähren. Das sollte niemals infrage stehen. Ich habe zu viele führende Politiker der Mitte gesehen, die glauben, sie könnten sich diese Stimmung bei Wahlen zunutze machen. Aber statt diese Stimmung einzudämmen, fachen sie sie nur noch mehr an. Das ist die falsche Antwort. Wir müssen den Menschen echte Lösungen ihrer berechtigten Sorgen anbieten, aber nicht bei dieser populistischen Anti-Einwanderungs-Debatte mitmachen.
Sophie in’t Veld ist eine niederländische Europapolitikerin der sozialliberalen Partei Democraten 66. Sie ist Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik.
Das Interview führte Christoph Hasselbach