Sollte ein guter Christ auf Fleisch verzichten?
1. November 2020Rainer Hagencord kritisiert die Kirchen dafür, dass Tiere in der Theologie ausgeklammert werden. Laut Hagencord kann der Mensch auch in der Begegnung mit den Tieren Gott begegnen. Diese Sichtweise ist im Münsterland, das als Herz der deutschen Fleischindustrie gilt, mit Konflikten verbunden.
DW hat mit Rainer Hagencord über Fleisch, Schuld und Moral gesprochen. Eine längere Version des Interviews ist im englischen Umwelt-Podcast "On the Green Fence" zu hören.
DW: In Deutschland werden jedes Jahr über 750 Millionen Tiere geschlachtet. Sie sagen, dass dies aus der christlichen Perspektive problematisch sei. Warum?
Hagencord: Als Theologe sage ich, dass unser System der industriellen Fleischerzeugung auf struktureller Sünde basiert. Wir dürfen nicht jeden Einzelnen beschuldigen, sondern müssen uns auf das System konzentrieren, dass uns schuldig werden lässt. In diesem System verliert jeder: Unsere Erde, Luft, Tiere, Wasser, Biodiversität, der globale Süden, die Arbeiter. Die einzigen Gewinner sind die Fleisch- und Pharmaindustrie. Eine Theologie, die den Menschen als Krone der Schöpfung überhöht und die Natur zu einem Ressourcenlager reduziert, ist mitverantwortlich für diese ökologische Katastrophe.
Die Ökologie spielt eine zentrale Rolle in ihren Predigten. Wie gehen Sie mit den Fleischessern in ihrer Gemeinde um?
Ich erlebe immer wieder, dass vielen Menschen hier im Münsterland das System der industriellen Tierhaltung mit diesen Ausmaßen nicht bekannt ist. Viele wissen immer noch nicht, dass der Regenwald abgeholzt wird, weil der Hunger nach billigem Fleisch in den Industrienationen nicht zu stillen ist. Und dann berühre ich natürlich die Schuldfrage. Wenn es um das System geht, bin ich genauso schuldig.
Welches System meinen Sie?
Deutschlands größter Fleischproduzent Tönnies ist keine 30 Kilometer von uns entfernt. Und durch den Tönnies-Skandal war nicht nur das ganze Elend der Tiere präsent, sondern auch das Elend der Menschen, die als Sklavenarbeiter dort gehalten werden. Ich weiß von vielen Menschen, die durch ihre Arbeit krank und depressiv werden. Wenn ich mit Tieren so umgehe als seien sie Rohlinge der Fleischindustrie, verroht meine eigene Seele, etwas in mir verkümmert.
Das deutlich zu machen, sehe ich als meine Aufgabe. Und hier kommen meine Esel [die auf dem Institutsgelände gehalten werden] ins Spiel. Ich habe das Glück, dass ich oft den Gottesdienst mit Gruppen feiere, die vorher bei den Eseln waren. Diese Menschen können dann mit dem biblischen Wort, dass die Tiere mit Gott im Bunde sind, viel mehr anfangen. Vielen fallen dann wieder eigene Erfahrungen mit Tieren ein. Dann erlebe ich oft eine tiefe Betroffenheit. Viele sagen dann: "So habe ich das noch nie gesehen, dass mein Fleischkonsum etwas mit meinem Christentum zu tun hat."
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Wir lieben Tiere. Gleichzeitig töten wir sie, um sie zu essen. Wie können wir dieses Paradoxon lösen?
Die Bibel hat eine sehr schöne Erzählung dazu, die vom Garten Eden und Adam und Eva. Diese Erzählung zeigt, dass wir nicht als Menschen leben können, ohne schuldig zu werden. Unser Ort ist jenseits von Eden. Die Tiere jedoch wurden nicht vertrieben. Sie werden unmittelbar von Gott bewegt, eine Gottunmittelbarkeit, die wir Menschen verloren haben. Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich fragen muss: „Will ich mich von Gott bewegen lassen, oder meinem eigenen Egoismus?"
Und was bedeutet das für die Fleischesser unter uns?
Wir werden dem Kreislauf auf Kosten anderen Lebens zu leben nie entkommen. Schuld ist daher eine Grundkonstante unseres Lebens. Der Mensch hat im Gegensatz zu den Tieren aber die Wahl. Wir können darauf verzichten, Fleisch zu essen und damit eine gewaltlosere Existenz anstreben. Es gibt für mich kein moralisches Argument mehr für Fleischkonsum.
Soll das heißen man kann kein guter Christ sein, wenn man Fleisch isst?
Ich sehe dieses Problem tatsächlich. Aber ich sage niemandem, was man tun oder lassen sollte. Die Kirche hat sich viel zu lange als Moralinstanz aufgespielt. Ich möchte lediglich Fakten sammeln und präsentieren. Als Theologe und Gott suchender Mensch kann ich aber auf Dauer nicht mehr verstehen, wie eine Religion, die sich Barmherzigkeit, Solidarität und Empathie auf die Fahnen geschrieben hat, dies bei den Tieren ausblendet.
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Das Christentum folgt dem Beispiel Jesu. Wissen wir, ob Jesus Fleisch gegessen hat?
Wir wissen, dass er nach der Auferstehung mit seinen Jüngern zusammenkam und Fisch gegessen hat. Wir können von der Bibel her nicht sagen, dass Jesus Vegetarier war. Dafür war er zu viel zu sehr eingebunden in die agrarische Kultur seiner Gegenwart. Aber schauen wir auf das Abendmahl. Es war ja am jüdischen Pessachfest. Dieses Fest versteht die Schlachtung des Lamms als religiösen Akt. Aber was hat Jesus im Abendmahl gegessen? Brot! Kein Fleisch. Und damit steht Jesus in der Tradition der großen Propheten, die an einen Gott glauben, der Barmherzigkeit will und keine Opfer. Historiker sagen, dass der Tempel zu Jerusalem an bestimmten Festen ein riesiger Schlachthof war. Das war ein großer Wirtschaftsfaktor. Die ganze religiöse Kaste, ganz Jerusalem hat von solchen Schlachtfesten gelebt. Und dann kommt dieser Mann aus Nazareth und sagt: "Das, was ihr da tut, ist Blasphemie!" Und deswegen musste er weg.
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Wie reagieren andere Priester auf ihre Botschaft?
Ich habe schon alles gehört. Manche Kollegen sagen: "Was du da veranstaltet, ist unerträglich, du verlässt damit den Boden unserer römisch-katholischen Theologie." Und andere sagen: "Endlich eine prophetische Stimme."
Und was sagt der Bischof dazu?
Der Bischof hat mich für diese Arbeit freigestellt. Und er hat mir dafür gedankt, dass ich die Stimme erhebe. Er hat aber auch gesagt, dass immer wieder Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten und Lobbys ihn auffordern, mich zu suspendieren. Offenbar treten wegen mir auch viele Menschen aus der Kirche aus.
Mit welcher Begründung?
Wir befinden uns hier in einer Region, die seit Generationen von der Mast- und Fleischindustrie geprägt ist, gleichzeitig ist es eine sehr katholische Region. Das heißt, es gibt in unserem Bistum kaum Gemeinden, in denen nicht auch Menschen leben, die in diesem System arbeiten. Da sind viele erstmal verstört, wenn ich als Priester den Eigenwert der Tiere hervorhebe. Mir hat mal eine Frau gesagt: "Wenn ich mit dem Satz 'Meine Schweine haben eine Würde' in den Stall gehe, kann ich die Arbeit gar nicht mehr machen. Aber ich muss sie machen." Das hat mich sehr berührt.
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Sie sind Vegetarier, aber kein Veganer, Sie essen also Milchprodukte. Kälber werden als Nebenprodukt der Milchindustrie geschlachtet. Macht Ihnen das zu schaffen?
Ja, das tut es. Aber ich kann nur sehr schwer auf Milch und Käse verzichten. Ich mache mich damit auch schuldig. Ich befinde mich in einem großen Konflikt, da ich weiß, dass ich falsch handle und ich möchte davon weg. Deshalb würde ich als Priester niemals mit dem Finger auf andere zeigen. Und da bin ich wieder biblisch und denke an Paulus, der im Römerbrief sagt, dass die ganze Schöpfung auf die Erlösung wartet. Ich bin ein schuldiger Mensch. Und ich lebe mit Tieren, die das nicht sind. Das erhöht mein Respekt vor ihnen. Wenn ich Tieren auf Augenhöhe begegne, weiß ich, dass sie Emotionalität und soziale Kompetenz haben. Dann kommt mir die Geschwisterlichkeit der Tiere immer näher. Und dann werde ich irgendwann sagen: „Ich möchte meine Geschwister nicht mehr essen."
Rainer Hagencord leitet als katholischer Priester das Institut für Theologische Zoologie in Münster. Auf dem Gelände leben neben Bienenvölkern auch zwei Esel, Frederik und Fridolin. Sie werden in Seminare zu Naturbegegnungen eingebunden und inspirieren auch Gottesdienste.
Das Interview führten Gabriel Borrud und Neil King