Wenn Christen in diesen Tagen das Pfingstfest feiern, gedenken sie eines Ereignisses, bei dem die Jünger Jesu, beseelt vom Geist Gottes, in fremden Sprachen redeten. Die Menschen - so die biblische Geschichte - waren bestürzt darüber, dass jeder sie in seiner Muttersprache verstehen konnte. Die Folge wird in der Apostelgeschichte beschrieben: "Alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam."
Heute sind wir diesem Pfingstwunder ganz nah. Übersetzungsprogramme und Künstliche Intelligenz reißen Sprachbarrieren ein, das Internet und die Sozialen Netzwerke ermöglichen eine weltweite Kommunikation in Echtzeit. Aber bilden wir eine globale Gemeinschaft und haben "alles gemeinsam"?
Wir lernen, wir lügen, wir surfen im Netz
Im Gegenteil: Gerade während der Corona-Pandemie zeigen sich tiefe Widersprüche. Was ist Wahrheit, was ist Lüge, was richtig, was falsch? Selten zuvor waren die Menschen rund um den Globus so sehr auf glaubwürdige Informationen angewiesen wie jetzt - aber allzu oft wird dieses Bedürfnis missachtet, ja mit Füßen getreten.
Das hat mehrere Ursachen. Der erste Grund liegt in der Sache selbst: Wir alle lernen tagtäglich dazu. Galt am Anfang der Pandemie Händewaschen als Königsweg zur Vermeidung von Ansteckungen, sehen Mediziner heute im Kontakt mit Gegenständen nur eine geringe Gefahr. Lange hieß es allenthalben, ein selbstgenähter Mund-Nasenschutz sei nicht hilfreich. Heute herrscht vielerorts eine mehr oder weniger umfangreiche Maskenpflicht. Auch hochangesehene Wissenschaftler haben Aussagen widerrufen - nicht, weil es ihnen an Intelligenz mangelt oder sie die Öffentlichkeit täuschen wollen, sondern schlicht, weil sich der Wissensstand geändert hat.
Zum zweiten gibt es die Populisten und Ideologen. Es ist bezeichnend, dass die vier Staaten mit den höchsten Infektionszahlen, also die USA, Brasilien, Russland und Großbritannien, allesamt von populistischen Politikern regiert werden. Ganz vorne - die USA mit einem Präsidenten Donald Trump, dessen Irrsinn angesichts der Corona-Krise alle Vorstellungen sprengt. Aber auch Jair Bolsonaro, Wladimir Putin und Boris Johnson sind Politiker, die ihrem Machterhalt alles andere unterordnen, selbst Gesundheit und Leben ihrer Bürger. Alle nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau. Und dann gibt es noch den hanebüchenen Unsinn, den Verschwörungstheoretiker vor allem über die sozialen Netzwerke verbreiten.
Pandemie trifft World Wide Web
Womit wir beim dritten Grund angelangt sind - und beim modernen Pfingstwunder: Erstmals in der Menschheitsgeschichte trifft eine Pandemie auf eine global vernetzte Öffentlichkeit. Binnen Sekunden erreichen Informationen in vorher nie bekannter Fülle unsere Computer und Smartphones. Es sind Informationen, von denen unter Umständen unsere Gesundheit abhängt, deren Wahrheitsgehalt wir aber oft nicht einschätzen können. Und das verunsichert Viele. Im Gegensatz zu den in der Bibel erwähnten Menschen wollen wir nicht glauben. Wir wollen wissen. Denn von unserem Wissen hängt unser Verhalten ab - und von unserem Verhalten die Ausbreitung des Virus. Es ist ein Dreiklang aus Wissen, Wollen und Tun.
Dass sich Erkenntnisstände ändern, ist unabänderlich. Aber dass massenhaft unter die Leute gebrachte Lügen und Verschwörungsunfug eingedämmt und aufgedeckt werden, ist das Gebot der Stunde. Fakten zu checken, ist eine ureigene Aufgabe für Journalisten. Aber es ist auch eine Pflicht für die Betreiber von Sozialen Plattformen. Dass jetzt Twitter eine Falschaussage des US-Präsidenten mit einem Warnhinweis versehen hat, ist eine gute Nachricht. Vielleicht führt der ansonsten rechtlich bedenkliche und völlig überzogene Rachefeldzug von Donald Trump gegen Twitter ja dazu, dass die Sozialen Medien - und dazu zählen auch die ungleich mächtigeren Netzwerke Facebook und YouTube - konsequenter von Lügen und Falschaussagen bereinigt werden. Denn wenn eine Pandemie auf Propaganda stößt, hat das zur Folge, dass Menschen leiden und sterben. Dann wird aus einem Wunder ein Fluch.