Spitzensport vor der Reform
27. September 2016Die mit Spannung erwartete Reform zur Förderung des deutschen Spitzensports liegt in ihrer Rohfassung auf dem Tisch. Am Mittwoch wurde sie im Sportausschuss des Deutschen Bundestages vorgestellt. Seit Monaten hatten das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium (BMI) und der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) an dem Reformvorschlag gearbeitet. "Wir brauchen die Reform nicht nur, um uns nach oben zu orientieren, sondern auch um nicht weiter nach unten abzurutschen", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maiziére.
Warum benötigt der Spitzensport eine Reform?
Medaillen und Titel sind im Sport die harte Währung. Großereignisse wie Europa- und Weltmeisterschaften und ganz besonders die Olympischen Spiele stehen im Fokus. Betrachtet man die olympische Erfolgsbilanz des deutschen Sports in den vergangenen Jahren, stellt man fest, dass diese stark rückläufig ist. Seit den Sommerspielen 1992, den ersten nach dem Zusammenschluss der west- und der ostdeutschen Mannschaft, hat sich die Medaillenausbeute fast halbiert: In Barcelona holten die deutsche Athleten noch 82 Medaillen. 1996 in Atlanta waren es 65, vier Jahre später in Sydney 56. Nach einem weiteren Rückschritt in Athen 2004 (48 Medaillen), war 2008 in Peking der Tiefpunkt erreicht (41). Nach einem kleinen Zwischenhoch in London (44), waren es zuletzt in Rio nur 42 Medaillen. Das soll - so der Wunsch von Politik und DOSB - künftig wieder besser werden, deshalb sollen vor allem die Strukturen der Förderung verändert werden.
Was ändert sich genau?
In Zukunft bekommen die Verbände nicht mehr eine bestimmte Summe ausgezahlt. Stattdessen soll sich die Förderung verstärkt an Sportlern und Gruppen orientieren, die bei Großereignissen Chancen auf Medaillen haben. Ist ein Athlet ausgewiesener Kandidat auf Gold, Silber oder Bronze, soll sein komplettes Umfeld außerordentlich unterstützt werden. Fehlt dagegen aus Sicht der Förderer eine derartige Perspektive, können und sollen ganze Disziplinen durchs Raster fallen. Allerdings könnten die von Kürzungen betroffenen Sportler mit einem überzeugenden Konzept wieder in die Förderung zurückkommen.
Die Reformer sprechen von einem "perspektivischen Berechnungsmodell", dessen Grundlage eine Bewertungskommission aus DOSB, dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft, der Führungsakademie des DOSB und externen Experten liefern soll. Anhand bestimmter Attribute wie erreichter Finalplätze und Medaillen oder Qualität der Nachwuchsförderung bewertet die Kommission einzelne Disziplinen und unterteilt sie in drei Gruppen, so genannte Cluster. Disziplinen im Exzellenzcluster haben hohes Medaillenpotential und werden optimal gefördert. Für die Disziplinen der zweiten Gruppe, dem Potenzialcluster, wird es Abstriche geben. Geld wird beispielsweise nur noch für einzelne Athleten, den Nachwuchs oder Verbesserungen der Struktur ausgezahlt. Die dritte Gruppe bilden die Sportarten ohne Potenzial. Bei ihnen wird finanziell deutlich gekürzt bis hin zum kompletten Förderungsstop.
Die Einteilung in die drei Gruppen soll Grundlage für Gespräche mit den Verbänden bilden, aus denen ein Fördervorschlag resultiert. BMI, DOSB und die Bundesländer sollen gemeinsam die Förderung festlegen. Die letztendliche Entscheidung über die Finanzen liegt aber beim Bundesinnenministerium.
Was sind die Folgen?
Es wird Reformgewinner geben, die künftig besser gefördert werden, und Verlierer, denen wichtige Mittel fehlen werden. Welche Auswirkungen das auf die Anzahl der gewonnenen Medaillen hat, muss sich erst zeigen. Für Randsportarten, die "kein Potential" besitzen, bisher aber von ihrer Präsenz bei den Olympischen Spielen profitierten, könnte es aber bedeuten, dass sie einer düsteren Zukunft entgegengehen. Die Einteilung in die Cluster könnte zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
Ein fiktives Beispiel: Die Kommission entscheidet, dass Bogenschießen kein Potential besitzt. Die Förderung wird eingestellt. In der Folge schafft es kein deutscher Bogenschütze in die olympischen Finals - und die Stellung als Sportart ohne Potential wird zementiert.
Auch für den DOSB hat die Reform Folgen: Bislang konnte der deutsche Sport-Dachverband so gut wie alleine über die Verteilung von jährlich rund 160 Millionen Euro Steuergeld entscheiden. Nun verliert er an Macht. Der Bundesrechnungshof, hatte vom BMI schon länger gefordert, sich vom Beratungsmonopol des DOSB zu lösen, Experten von außen hinzuzuziehen und Förderkriterien zu entwerfen, die jeder nachvollziehen könne. Die Reform ist daher - wenn die Kommission transparent arbeitet - ein Schritt hin zu mehr Objektivität.
Was sagen Trainer, Athleten und Funktionäre?
Die Ansichten der Sportler sind geteilt: Der dreimalige Kanu-Olympiasieger Sebastian Brendel begrüßt den erfolgsorientierten Ansatz. "Wichtig ist, dass erst der Erfolg kommt und dann die Förderung", sagt Brendel, auch wenn eine solche Reihenfolge auf Kosten der Vielfalt gehe. "Aber an irgendwelchen Stellen muss man ja ansetzen", sagt der 28-Jährige. Max Hoff, ebenfalls Kanu-Olympiasieger, sieht die Reform eher skeptisch: "Ich glaube, ich wäre als Athlet in dem System definitiv durchgefallen. Man darf junge Athleten nicht zu früh abschreiben."
Andere Athleten hatten bereits während der Olympischen Spiele in Rio insgesamt mehr Geld für den Sport gefordert. Slalom-Kanute Hannes Aigner klagte nach der um drei Hundertstelsekunden verpassten Bronzemedaille, dass Deutschland zu wenig Geld in den Spitzensport investiere. "So lange sich da nichts ändert, kann man auch nicht erwarten, dass bessere Leistungen da sind", sagte Aigner. "Mit mehr Geld kann man mehr anfangen: mehr Trainingslager, mehr Trainerstellen, mehr Nachwuchsarbeit."
Die Fechter, die erstmals seit 1980 ohne olympische Medaille blieben, beklagten, dass es in Deutschland - im Gegensatz zu anderen Ländern - keine Profifechter gebe. Russland etwa investiere Millionen in den Fechtsport, sagte Fecht-Sportdirektor Sven Ressel. So könne man mit manchen Nationen einfach nicht mithalten.
Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) wies darauf hin, dass sich die Förderung nicht allein nach der Menge der Medaillen richten dürfe. So habe es in der Leichtathletik beispielsweise eine sehr lange Durststrecke im Dreisprung gegeben, ehe in diesem Sommer bei den Europameisterschaften in Amsterdam urplötzlich Max Heß Gold gewann. "Solche Überraschungen wären nicht mehr möglich, wenn man die Förderung für den Dreisprung gestoppt hätte", so Prokop. Der DLV-Präsident gehört auch zu denen, die bei der Entwicklung der Reform mehr Transparenz und Einbindung der Spitzenverbände gefordert hatten.
Bis wann soll die Reform umgesetzt werden?
Nachdem der Reformvorschlag am Mittwoch vorgestellt wird, diskutieren die Sportverbände auf einer Sitzung in Frankfurt am 18. Oktober darüber, ehe es am 19. Oktober eine öffentliche Anhörung des Sportausschusses im Bundestag gibt. "Jetzt kommt erst einmal die Arbeit innerhalb des Sports", sagt der DOSB-Vorstandsvorsitzende Michael Vesper. "Und die Diskussionen mit dem BMI gehen weiter. Wir hoffen, dass wir anschließend rasch zu einem Endergebnis kommen."
Wahrscheinlich werden alle neuen Maßnahmen erst im Jahr 2018 greifen. Die Vorbereitungen auf die nächsten Olympischen Winterspiele, die Anfang 2018 in Pyeongchang in Südkorea stattfinden, folgen demnach noch den alten Vorgaben.