Land mit "Mafia-Strukturen"?
5. März 2018Für gewöhnlich gehen die Menschen an der kleinen Gedenktafel in der Innenstadt von Bratislava vorbei. Sie ist an der Gebäudemauer einer Klinik angebracht und erinnert an den Beginn der antikommunistischen Demonstrationen im November 1989 auf diesem Platz. Nun stehen hier hunderte Kerzen vor einem Bild des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kusnírová, die vor zehn Tagen ermordet wurden. Viele Menschen bleiben in diesen Tagen stehen, junge Leute, Ehepaare mit kleinen Kindern, Rentner, und gedenken schweigend. Manche legen Blumen nieder, andere stellen neue Kerzen hinzu. Und so wird das Lichtermeer von Tag zu Tag größer.
Der Mord an dem Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak, 27, und seiner Verlobten erschüttert die Slowakei wie wenige andere Ereignisse seit der Unabhängigkeit 1993. Das junge Paar, das im Mai heiraten wollte, wurde in seinem Wohnhaus in einem Dorf östlich von Bratislava regelrecht hingerichtet - aller Wahrscheinlichkeit nach wegen einer Recherche von Kuciak, die belegen sollte, dass italienische Mafia-Mitglieder über zwei der wichtigsten Berater des Ministerpräsidenten Robert Fico direkten Zugang zur Regierung und auch zu geheimen Informationen hatten.
Tiefe Identitätskrise
Es ist neben dem Mordfall an sich auch die Ungeheuerlichkeit dieser Situation, die viele Menschen im Land zutiefst entsetzt. Sie erinnert an die Wirren der 1990er Jahre in der Slowakei, als der Autokrat Vladimír Meciar regierte. Damals gingen Politik und organisiertes Verbrechen Hand in Hand, die Slowakei stand jahrelang an einem Scheideweg zwischen der Entwicklung zu einem autokratischen Mafia-Staat und einem Land mit rechtsstaatlich-demokratischer Perspektive.
Bis zum Mord an Kuciak und seiner Verlobten glaubten viele Menschen im Land, diese Frage sei spätestens mit dem EU-Beitritt 2004 endgültig entschieden worden. Doch plötzlich scheint sich kaum jemand mehr sicher, was für ein Staat die Slowakei ist. Der Mordfall hat das Land nicht nur in eine politische, sondern seine Menschen auch in eine tiefe Vertrauens- und Identitätskrise gestürzt.
Diese Krise beschrieb der slowakische Staatspräsident Andrej Kiska, ein Unternehmer, Philantrop und eine Art gutes Gewissen seines Landes, am Sonntag in einer Ansprache an die Bevölkerung mit eindringlichen Worten: "Heute ist das Misstrauen der Menschen gegenüber dem Staat riesig. Und das ist berechtigt. Viele Menschen glauben, dass die Tragödie des Mordes an Kuciak und seiner Verlobten in vielerlei Hinsicht die slowakische Wirklichkeit widerspiegelt. Das ist eine schreckliche Visitenkarte unseres Staates nach 25 Jahren Existenz. Etwas Schlechtes ist unter der Oberfläche, etwas Schlechtes steckt in den Grundfesten unseres Staates."
Wie in einem schlechten Mafia-Film
Das Gefühl, von dem Kiska spricht, ist vor allem auch in den Redaktionen unabhängiger Medien zu spüren. Dort, wo investigativ arbeitende Journalisten ähnliche Themen recherchieren wie der ermordete Kuciak und wo politische Beobachter den Regierenden akribisch auf die Finger schauen. Dort also, wo man die Anatomie der Macht bestens kennt.
Auch Peter Habara, 28, weiß, wie die Herrschenden in der Slowakei agieren. Er hat persönlich oft erlebt, wie Ministerpräsident Fico Journalisten beschimpfte, als "Hyänen", Idioten" oder "anti-slowakische Prostituierte". Habara arbeitet beim Portal aktuality.sk, wo auch Kuciak angestellt war. Die beiden waren befreundet, recherchierten zusammen, sie werteten beispielsweise die Panama Papers auf slowakische Verbindungen aus.
Habara ist noch immer schockiert und fassungslos über den Tod seines Kollegen, so wie alle in der Redaktion. Die Stimmung im Großraumbüro von aktuality.sk ist gedrückt, alle sprechen leise, niemand lacht oder lächelt. Auf dem Schreibtisch von Ján Kuciak stehen frische Blumen, seine Kollegen sorgen dafür, dass immer eine Kerze brennt.
Habara ist auch schockiert über die Art und Weise, wie die Regierung mit der Aufklärung des Falles umgeht. Als Ministerpräsident Fico vergangene Woche während einer Pressekonferenz eine Million Euro Bargeld in dicken Bündeln auf einem Tisch präsentierte und dieses Geld als Belohnung für Hinweise auf die Mörder Kuciaks auslobte, wähnte sich Habara in einem schlechten Mafia-Film, nicht auf der Pressekonferenz eines Ministerpräsidenten in einem EU-Land. Habaras ohnehin geringes Vertrauen in die politischen Repräsentanten seiner Heimat schwand noch mehr. "Fico scheint tatsächlich zu glauben, er könne diesen Mord mit Geld regeln, so wie auch Mafiosi untereinander abrechnen", sagt der Journalist.
Nur noch leere Rhetorik
Der linksnationalistische und nominell sozialdemokratische Regierungschef Robert Fico bestimmt die Geschicke der Slowakei seit über einem Jahrzehnt. Seinen populistischen, stark antimuslimischen Diskurs hat er seit 2016 zurückgeschraubt, immer wieder betonte Fico in letzter Zeit, die Slowakei gehöre zu Kerneuropa. Das Image des Landes war deshalb und auch angesichts der Entwicklung in Polen, Tschechien und Ungarn durchaus positiv gewesen.
"Das war überwiegend Rhetorik, getan hat Fico für die Europa-Anbindung der Slowakei wenig", sagt Péter Morvay, 48, außenpolitischer Kommentator der Tageszeitung DenníkN und einer der profiliertesten Mittelosteuropa-Experten in der Slowakei. Fico habe geschickt und erfolgreich einen doppelten Diskurs gepflegt, sagt Morvay, einerseits mit gemäßigten Botschaften nach außen, anderseits mit einem populistischen Diskurs nach innen. Nun allerdings, analysiert Morvay mit Blick auf Szenen wie Ficos Auftritt mit jener Million Euro, verliere der Regierungschef das Gespür für die Stimmung der Öffentlichkeit. "Er wirkt, als habe er die Situation nicht mehr im Griff", so Morvay, "und damit manövriert er die Slowakei nur immer tiefer in eine ernsthafte Krise".
Der Präsident, der Regierungschef und die Neuwahlen
Wie ein Ausweg aus dieser Krise aussehen könnte, darüber wagt im Land kaum ein Beobachter eine Prognose. Staatspräsident Andrej Kiska forderte in seiner Ansprache am Sonntag eine grundlegende Neustrukturierung der Regierung oder vorgezogene Neuwahlen - eine Forderung, die Robert Fico umgehend ablehnte und mit den Worten verwarf, die Rede des Präsidenten sei "offensichtlich nicht in der Slowakei geschrieben" worden, sondern "von Leuten, die völlig andere Ziele verfolgen".
Der frühere Enthüllungsjournalist und politische Kommentator Árpád Soltész ist regelrecht entsetzt über solche Bemerkungen des Regierungschefs. Er sieht bei Fico einen "totalen Realitätsverlust". Leider, so Soltész, gebe es in der Slowakei derzeit praktisch keine akzeptable politische Alternative. Die etablierten Regierungs- und Oppositionsparteien seien diskreditiert, als Ausweg aus der Krise böten sich lediglich Rechtsextreme und Rechtspopulisten an.
Soltész ist einer der bekanntesten Journalisten in der Slowakei und ein Urgestein des investigativen Journalismus im Land. Er wurde in den 1990er Jahren wegen einer Recherche über eine betrügerische Privatisierung krankenhausreif geprügelt. Der Fall erregte damals großes Aufsehen - aufgeklärt wurde er nie.
Soltész kannte Ján Kuciak gut, sie arbeiteten zeitweise in einer Redaktion zusammen. Vor dem Mord an ihm und seiner Verlobten vertrat Soltész in Interviews und Kommentaren immer wieder die Position, dass die Slowakei ein verhältnismäßig gefestigter Rechtsstaat sei. Als der Staatspräsident Andrej Kiska vor einigen Monaten öffentlich fragte, ob die Slowakei ein Staat mit Mafia-Strukturen sei, kritisierte er ihn in einem Kommentar scharf. Jetzt sagt Soltész dazu selbstkritisch: "Ich lag falsch."