Sindschar in Trümmern
25. November 2015Ein Bild der Zerstörung. Sindschar liegt in Trümmern. Eingestürzte Häuser, ins Freie geschleuderte Teppiche, Kleider, Möbel, Kinderspielzeug. In der Jesidenstadt unweit der syrischen Grenze ist kein Haus heil geblieben. Als Kurdenpräsident Masoud Barsani seinen Besuch in der seit einer Woche von der Terrormiliz "Islamischer Staat" befreiten Stadt ansagt, wird schnell eine Bühne aufgebaut, von der er die Rückeroberung durch seine Peschmerga-Truppen preist und gleichzeitig den Anspruch Irakisch-Kurdistans über die Verwaltungshoheit bekräftigt. Die autonome Regierung in Erbil werde den Wiederaufbau Sindschars vorantreiben, damit die vielen Flüchtlinge zurückkehren könnten. Aus den umliegenden Dörfern der gleichnamigen Provinz sind Einwohner gekommen, um Barsani zu bejubeln. Sie schwenken kurdische Fahnen und säumen den Weg, als der Kurdenführer in die Stadt einfährt, die gut sechs Autostunden von der Kurdenmetropole Erbil entfernt liegt. In Sindschar selbst wohnt derzeit niemand. Nur Peschmerga-Einheiten sind dort stationiert, die Soldaten Irakisch-Kurdistans.
Einwohner holen Hab und Gut
Auf dem Weg nach Sindschar kommen uns Geländewagen und Kleintransporter entgegen, die allerlei Hausrat geladen haben. Der Verdacht drängt sich auf, dass Plünderer am Werk sind. Doch auf Nachfrage stellt sich heraus, dass es mehrheitlich Einwohner von Sindschar sind, die vor gut einem Jahr vor den IS-Kämpfern geflohen waren und nun zurückkehren, um ihr Hab und Gut oder das, was davon noch übrig ist, zu retten. Sie transportieren es in die Orte, wo sie Unterschlupf gefunden haben. "Wir gehen noch nicht zurück", sagt Marwan, der Matratzen und Decken auf einen Minibus geladen hat und im Flüchtlingslager in Dohuk lebt. "Erstens ist alles zerstört und dann misstrauen wir der Lage." Die Erfahrung habe gezeigt, dass der IS sich zwar zurückzieht, aber nach einer bestimmten Zeit wieder angreift. So war es in Tikrit, der nach Mosul zweitgrößten Stadt, die die Dschihadisten im Juni 2014 eingenommen hatten.
Die Militäroperation zur Rückeroberung Sindschars ließ lange auf sich warten. Schon im Dezember letzten Jahres hieß es, die Peschmerga würden die ehemals 50.000 Einwohner zählende Stadt vom IS befreien. Dieser hatte in einer Blitzaktion Anfang August 2014 große Gebiete erobert, die im Juni unter kurdische Autonomie gerieten. Vordem war Sindschar Bagdad unterstellt. Nachdem die irakische Armee vor den Dschihadisten kapituliert hatte, rückten die kurdischen Peschmerga-Kämpfer vor und kontrollierten fortan vor allem Kirkuk, aber auch die Christenstadt Karakosch und die Jesidenstadt Sindschar. Doch auch die Peschmerga kapitulierten zunächst vor dem IS und überließen die Jesiden Sindschars schutzlos den grausamen "Gotteskriegern".
Drei Massengräber haben Peschmerga-Offiziere inzwischen gefunden, mit je 100 bis 200 Leichen. Man werde aber noch weitere finden, sind sich die Soldaten vor Ort sicher. Tausende Jesiden flohen in Angst und Panik vor dem IS in die Berge, saßen dort tagelang fest, bis ein Korridor über Syrien nach Dohuk im Irak geschaffen wurde und die Menschen zu Fuß oft stundenlang dorthin unterwegs waren. So war die Hoffnung groß, als die erste Militäroperation der Kurden begann. Doch damals schafften es die Peschmerga lediglich, das Gebiet bis zu den Sindschar-Bergen zurückzuerobern. Die Stadt selbst blieb weiterhin in der Hand des IS.
Berliner Mauer in Sindschar
Als Izaddin Sadus im Frühsommer von Bashiqa in der Nähe von Erbil nach Sindschar abkommandiert wurde, bahnte sich ein Strategiewechsel an. Der Brigadegeneral, der lange Jahre in Lübeck lebte, sollte die sukzessive Rückeroberung Sindschars vorbereiten. Er gilt als Teamarbeiter und schaffte es, die bis dahin auseinanderstrebenden Gruppen zu einer "Allianz für Sindschar" zu vereinen. Zusammen mit PKK-Einheiten, der türkisch-kurdischen Guerillatruppe, die schon vorher in den Bergen operierten, rückte die Peschmerga immer näher an die Stadt heran. Doch monatelang gingen die Fronten ständig hin und her. "Es war schwierig", fasst der 54-jährige Peschmerga-Offizier zusammen. Mal kontrollierten die Kurden 30 Prozent von Sindschar, mal 40. Die Betonstehlen, der Berliner Mauer gleich, die heute in Sindschar auffallen, zeichnen den ehemaligen Frontverlauf.
Das änderte sich erst mit den Luftschlägen der Amerikaner, die in den letzten Wochen vor dem Großangriff intensiviert wurden. Als die 7500 kurdischen Soldaten dann auf Sindschar vorrückten, war vom IS nichts mehr zu sehen. Die Dschihadisten seien entweder nach Mossul oder nach Syrien abgehauen, sagen Augenzeugen. Nahezu kampflos konnten die Kurden die Stadt einnehmen. Jetzt gilt es, die Stellungen zu halten und den Wiederaufbau voranzutreiben, damit die Leute Mut fassen und zurückkehren. Sadus ist zuversichtlich, dass das bald gelingen wird. "Bis Anfang nächsten Jahres sind wir bestimmt ein großes Stück voran gekommen." Der Brigadegeneral hofft, dass er dann endlich seine Familie in Lübeck wiedersehen kann.