Sind Hartz-IV-Sanktionen akzeptabel?
18. Januar 2019In Deutschland gibt es rund 2,34 Millionen Erwachsene ohne Arbeit, das ist eine Quote von etwa 3,4 Prozent. Im März 2018 erhielten etwa 6,2 Millionen Menschen die staatliche Grundsicherung Hartz-IV. Über den Umgang mit ihnen berät seit dieser Woche das Bundesverfassungsgericht. Die Hauptfrage: Dürfen Jobcenter Hartz-IV-Zahlungen kürzen, wenn die Empfänger nicht an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen oder vorgeschlagene Arbeitsstellen ablehnen? Oder sägen solche Sanktionen am Existenzminimum und sind verfassungswidrig?
Hartz-IV ist der umgangssprachliche Begriff für Arbeitslosengeld II (ALG II). Diese 2005 eingeführte Grundsicherung steht erwerbsfähigen Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen zu, damit auch sie ein Leben führen können, das dem ersten Artikel des Grundgesetzes entspricht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Das ALG II für eine alleinstehende Person beträgt aktuell 424 Euro im Monat. Davon müssen Strom, Lebensmittel, Kleidung, Telefonrechnung und alles, was sonst noch zum Leben benötigt wird, bezahlt werden. Die Kosten für Heizung und Miete einer vom Staat als "angemessen" angesehenen Wohnung werden zusätzlich übernommen.
Bei Sanktionen können 10, 30, 60 oder sogar 100 Prozent der Hartz-IV-Zahlungen gestrichen werden. Unmöglich, findet Friederike Mussgnug von der Diakonie, der Hilfsorganisation der evangelischen Kirche. "Die Auswirkungen dieser Sanktionen sind unangemessen hart, weil sie in das Existenzminimum eingreifen", sagt die Referentin für Sozialrecht im Gespräch mit der DW.
Die Bundesregierung sieht das anders. Das Existenzminimum bleibe gesichert, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil am Dienstag. Die Hartz-IV Kürzungen seien "aktivierende Hilfen", sagt Heil. Es solle vom Sozialstaat "soviel Ermutigung geben wie möglich und soviel Ermahnung wie nötig."
Sanktionen für versäumte Termine und abgelehnte Jobs
Bei Sanktionen werden Leistungen für Empfänger aus verschiedenen Gründen gekürzt. Bei einem Meldeversäumnis, also wenn ein Hartz-IV-Empfänger ohne "wichtigen Grund" nicht zu einem Termin beim Jobcenter (früher: Arbeitsamt) erscheint, wird die Leistung für drei Monate um 10 Prozent gekürzt. Bei mehreren versäumten Terminen summieren sich die Kürzungen.
Härter wird es, wenn der Leistungsempfänger für eine sogenannte Pflichtverletzung bestraft werden soll. Das passiert, wenn er ohne "wichtigen Grund" eine vom Jobcenter als zumutbar angesehene Arbeit ablehnt, sich bei einem Bewerbungsgespräch absichtlich daneben benimmt oder Fortbildungen und Trainingsmaßnahmen ablehnt.
Bei der ersten solchen Pflichtverletzung wird Hartz-IV um 30 Prozent gekürzt, bei der zweiten um 60 Prozent. Bei der dritten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres kommt es zur Vollsanktionierung: Es gibt drei Monate lang kein Geld und auch die Miete wird nicht mehr gezahlt. Selbst für die Krankenversicherung kommt der Staat in dieser Zeit nicht auf.
Ein Problem: Die vom Jobcenter vorgesehenen Fortbildungen sind nicht immer nachvollziehbar, wie beispielsweise Twitter-Nutzerin Mila in einem viralen Tweet zeigte. Ihre Mutter, so die Nutzerin, müsse erniedrigende Beschäftigungsmaßnahmen mitmachen, um Hartz-IV-Sanktionen zu entgehen.
Drohende Obdachlosigkeit
Harald Thomé ist Referent für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht, sowie Vorsitzender des Vereins Tacheles in Wuppertal. Tacheles sieht sich als Interessenvertretung für Erwerbslose und berät Menschen in Fragen der Existenzsicherung und zu Hartz-IV. Auch Thomé hat Erfahrung mit "kontraproduktiven" Forderungen des Jobcenters, wie er sie nennt.
"Ich hatte einen Fall von einem Mann, der früher Bewerbungstrainings geleitet hat", erzählt Thomé der DW. Nachdem der Trainer seinen Job verlor, wurde er zu einer Fortbildung geschickt. Thema: Bewerbungstraining. "Nach dem vierten Mal hat er gefragt 'Was soll das? Ich weigere mich, da hinzugehen. Das ist Verschwendung öffentlicher Gelder, ich kann das doch besser als der Trainer.' Dafür hat er dann auch eine Sanktion bekommen."
Thomé kritisiert die Sanktionen scharf. Er hat in seiner Funktion bei Tacheles schon mit Menschen zu tun gehabt, die "krank oder völlig überfordert" waren, mit Sanktionen bestraft wurden - und so ihre Wohnung verloren. Davon kann auch Diakonie-Referentin Mussgnug berichten. "Das ist eine echte Gefahr," sagt sie, da jede Sanktion über drei Monate geht, ein Vermieter bei Ausbleiben der Miete aber bereits nach zwei Monaten den Mietvertrag kündigen darf.
Menschenwürde in Gefahr?
Bei einem alleinstehenden Menschen wird bei der ersten Pflichtverletzung die monatliche Hartz-IV-Zahlung von 424 Euro um 127,20 Euro gekürzt. "Es trifft häufig Menschen, die seit Jahren in diesem System stecken, und von daher natürlich auch keine Rücklagen mehr haben", sagt Thomé. "Da sind 127 Euro katastrophal viel Geld." Der Tacheles-Vorsitzende lehnt die Kürzungen kategorisch ab: "Die Sanktionen verletzen den Grundsatz der Menschenwürde."
Arbeitsminister Heil sagt dagegen: "Zur Menschenwürde gehört auch, dass Menschen sich anstrengen." Sonst wäre das Arbeitslosengeld ein bedingungsloses Grundeinkommen, und das sei so nicht gewollt. Mussgnug widerspricht dem Bild des faulen Arbeitslosen, der durch die Sanktionen zur Rechenschaft gezogen wird. "Leute, die sich wirklich ernsthaft drücken wollen, sind so clever, das zu machen, ohne aufzufallen." Stattdessen treffe es zum Beispiel Menschen mit Depressionen, die nicht mehr in der Lage seien, Briefe zu öffnen, und so auch jegliche Mitteilungen vom Jobcenter verpassten. Statt Kürzungen sei eine psycho-soziale Betreuung nötig.
Im Vergleich zu den härtesten Sanktionen könne selbst eine Haftstrafe weniger schlimm sein, sagt Mussgnug - ein krasser Vergleich, aber er sei deutlich. "Im Gefängnis hat man einige existenzielle Sorgen nicht, die man hat, wenn man eine volle oder eine 60-Prozent-Sanktion bekommt. Dann wissen Sie nämlich nicht, ob Sie ein Dach über dem Kopf behalten, und Sie wissen auch nicht, ob Sie immer drei Mahlzeiten am Tag haben werden. Im Justizvollzug haben Sie das sicher."