Wer kann Russland an sich binden?
4. Dezember 2019China und Russland haben diese Woche eine neue Gaspipeline in Betrieb genommen. "Ein historisches Ereignis", erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin. Allerdings nicht so wichtig, dass Putin und sein Counterpart, Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, extra deswegen im Winter nach Ostsibirien gereist wären. Beide ließen sich aber per Video zur Eröffnung zuschalten. Sila Sibiri - "Kraft Sibiriens" - wurde die 3000 Kilometer lange Leitung getauft. Sie werde die Beziehung zwischen China und Russland auf ein "neues Niveau" heben, so Putin.
Das ist nicht übertrieben: Die Pipeline, die voll ausgebaut von den sibirischen Gasfeldern bis nach Schanghai verlaufen wird, ist das größte russische Energieprojekt seit dem Ende der Sowjetunion und mit Kosten von rund 55 Milliarden US-Dollar die bisher teuerste russische Gasleitung. Zunächst wird nur ein 2157 Kilometer langes Teilstück bis zur chinesischen Grenze in Betrieb genommen. Die komplette Fertigstellung soll aber schon 2022 abgeschlossen sein. Bis 2025 sollen dann für drei Jahrzehnte jährlich 38 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland nach China fließen, gute 9,5 Prozent von Chinas derzeitigem Verbrauch.
China wird Russlands größter Gas-Kunde
Nur Deutschland kauft noch mehr Gas in Russland - die Frage ist allerdings: wie lange noch? Denn Moskau und Peking führen bereits Gespräche über eine weitere Leitung, die jährlich bis zu 30 Milliarden Kubikmeter Gas aus dem Westen Sibiriens über die Altai-Region nach China transportieren soll. Putins Strategie ist klar: Er macht sich unabhängiger von den Europäern, die sein Land seit Jahren mit Sanktionen belegen. Im März 2014, nachdem Putin sich die Krim einverleibt hat, hat der Westen mit Sanktionen reagiert. Peking ist der lachende Dritte und spricht wie so oft von einer "Win-Win-Situation".
China ist heute der weltweit größte Energieverbraucher. Da kommen die Angebote Russlands gerade recht. Auch Öl- und andere Brennstoffe bezieht das Land seit einigen Jahren verstärkt aus Russland. Und auch in anderen Bereichen rücken die beiden Länder enger zusammen. Man wolle das bilaterale Handelsvolumen bis 2024 auf umgerechnet 182 Milliarden Euro steigern, erklärte Putin unlängst. 2018 lag es erstmals bei mehr als 100 Milliarden Dollar. Tendenz steigend.
Dieser Trend wird nicht abnehmen, da Peking - seit US-Präsident Donald Trump an der Macht ist - einem ähnlichen politischen Druck ausgesetzt ist wie Russland. Russland leidet unter den Sanktionen, China unter den neuen Zöllen der USA. Putin und Xi stellen nun beide fest, dass sie sich immer weniger auf den Westen verlassen können. Das schweißt zusammen - bei allen Differenzen, die es immer noch zwischen Moskau und Peking gibt.
Huawei darf russischen 5G-Netz mitbauen
Demonstrativ erlaubte Moskau kürzlich dem Netzwerkausrüster Huawei, das russische 5G-Netz mit aufzubauen. Die Vertragsunterzeichnung fand im Beisein der beiden Staatspräsidenten statt, damit - wie bei der Pipeline in Sibirien - ja keiner im Westen die Symbolwirkung übersehen konnte. Russland hat die politische Kühnheit, aber auch die militärische Stärke, die Amerikaner und die Europäer auf der Weltbühne herauszufordern, etwa in Syrien mit der Unterstützung des schwierigen NATO-Partners Türkei. Der türkische Präsident Erdogan kann so selbstbewusst gegenüber Brüssel und Washington auftreten, weil Putin ihm gerne den Rücken freihält.
Xi wiederum bindet aus dem Kreis der EU-Mitglieder ein unzufriedenes Land nach dem anderen an sich, indem er über die "One Belt, One Road"-Initiative dort investiert. Wenn man jedoch genauer hinschaut, machen Peking und Moskau mindestens so viel parallel, wie sie gemeinsam machen. Aus gutem Grund.
Misstrauen und Vorbehalte auf beiden Seiten
Das Misstrauen in Russland, vom riesigen und effizienteren China überrollt zu werden, ist groß. Immer wieder kocht in der Bevölkerung die anti-chinesische Stimmung hoch, zuletzt zum Beispiel aufgrund von Trinkwasserfabriken, die chinesische Investoren am unter Naturschutz stehenden Baikal-See aufbauen wollen. Umgekehrt haben viele chinesische Geldgeber Sorgen, dass ihre Projekte im russischen Sumpf aus Korruption und Ineffizienz stecken bleiben.
Wenn es hart auf hart kommt sitzen die Chinesen am längeren Hebel. In der Liste der Länder mit der kaufkraftbereinigten gößten Wirtschaftskraft steht Russland nur auf Platz 6, China ist hingegen der Spitzenreiter. Und Moskau braucht die Einnahmen aus den Gasverkäufen dringender als Peking das Gas. Jahrelang hatten Peking und der russische Öl-Monopolist Gazprom ergebnislos verhandelt. Dass der Vertrag dann 2014, im Jahr der Krim-Krise, zustande kam, ist kein Zufall: Die Chinesen schlugen zu, als die Russen die westlichen Sanktionen am meisten fürchteten. Inzwischen kommen die meisten russischen Importe mit einem Anteil von 20 Prozent aus China. In Deutschland sind es nur zwölf Prozent.
Die EU sitzt in der Zwickmühle
Besonders Brüssel hat sich im Umgang mit China und Russland in eine Zwickmühle manövriert. Die EU hat durch die Sanktionen gegen Russland einen wirtschaftlichen Schaden erlitten, ohne daraus auch nur irgendeinen politischen Nutzen ziehen zu können. Es ist ein Irrglaube des Westens, ein Land wie Russland mit Sanktionen zur Räson bringen zu können. Vor allem wenn ein mächtiger Player wie Peking bereitsteht, um in die Lücken vorzustoßen.
Die Europäische Union sollte der Realität ins Auge sehen: Russland ist wichtig für Europa. Das hat auch Frankreichs Präsident Macron erkannt, der zuletzt für mehr Kompromisse warb und dazu aufforderte, dass Europa sein gespaltenes Verhältnis zu Russland neu überdenken solle. "Europa wird weiterhin Schauplatz eines strategischen Machtkampfes zwischen den USA und Russland sein", so Macron in einer Rede Ende August. Er hätte auch sagen können: einem Machtkampf zwischen einem immer mächtiger werdenden China und einem immer weniger verlässlicheren Amerika. Kurz: Um die Balance zu halten, müssen wir einer weiteren Annäherung Russlands an China zuvorkommen. Und natürlich könnte man mit einem Putin, der sich von der europäischen Familie nicht ausgeschlossen fühlt, auch viel offener reden als das jetzt der Fall ist.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.