Klare Ansage aus Hongkong
27. November 2019Auch wenn das Thema derzeit von der erschreckenden Lage in Xinjiang überschattet wird, sind die Entwicklungen in Hongkong vom vergangenen Wochenende doch von grundlegender historischer Bedeutung für China. Noch nie haben so viele Hongkonger an einer Kommunalwahl in ihrer Stadt teilgenommen: 71 Prozent der Wahlberechtigten gaben am Sonntag ihre Stimme ab, fast drei Millionen Menschen. Damit hat zwar ein knappes Drittel der Bürger Hongkongs nicht gewählt, dennoch ist es ein Erdrutschsieg für jene Kräfte, die mehr Mitsprache in der Sonderverwaltungszone fordern: Das pro-demokratische Lager stellt nun 90 Prozent aller Sitze in den Bezirksräten.
Noch nie in der Geschichte Chinas haben sich Chinesen in freien Wahlen so deutlich gegen Peking gestellt. Hardliner des pekingtreuen politischen Establishments wie der Abgeordnete Junius Ho mussten das Feld räumen. Dass die Wahl ein Referendum sein würde, hatten sogar die chinesischen Staatsmedien vorausgesagt, dabei jedoch auf eine "schweigende Mehrheit" verwiesen, die mehr "Ordnung und Sicherheit" wolle und deshalb das chinatreue Lager wählen werde. Diese Behauptung wurde nun widerlegt.
Ruf nach mehr Mitbestimmung
Sicherheit und Ordnung in ihrer Stadt wollen auch die pro-demokratischen Wähler. Aber wichtiger ist ihnen mehr Mitbestimmung und weniger Einfluss von Peking. Sie fordern eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Und sie wollen ihre Regierung frei wählen.
Die amtierende Chefin Carrie Lam, die sich starrsinnig gegen Reformen und Zugeständnisse stemmt, wurde faktisch abgewählt. Dass sie das Feld auch nach dieser eindeutigen Schlappe nicht räumen will und Peking offensichtlich an ihr festhält, zeigt die Grenzen der Mitbestimmung in Hongkong deutlich. Und diese Grenzen halten die Wähler für zu eng. In einer ersten Stellungnahme erklärte Lam zwar, sie werde "demütig und ernsthaft" über den Ausgang des Votums nachdenken, schob jedoch gleich bei ihrem nächsten Auftritt hinterher, dass sie weiterhin nicht auf die Forderungen der Demonstranten eingehen werde. Stattdessen erklärte sie, ein Komitee einsetzen zu wollen, das die "tiefsitzenden soziale Probleme in der Stadt bewerten" solle. Wann und wie ließ sie offen. Das ist natürlich viel zu wenig.
Verzögerungstaktik
Für viele Menschen in Hongkong klingen solche Worte aus Lams Mund ohnehin nach der alten Verzögerungs- und Versandungstaktik, die die Lage erst eskalieren ließ. Lam setzt offensichtlich darauf, dass die Bezirkswahlen nur ein symbolischer Sieg für die Demonstranten waren. Faktisch haben die am Sonntag gewählten Abgeordneten nämlich kaum politischen Spielraum, können selbst keine Gesetze verabschieden und kaum Entscheidungen treffen. Ihre Funktion ist vor allem eine beratende in öffentlichen Angelegenheiten der Stadtteile, etwa was die Straßenordnung oder Recyclingfragen angeht.
Das ist ein weiterer von Lams vielen Fehlern. Denn nun arbeiten die demokratischen Kräfte auf ihr nächstes Ziel hin: die Parlamentswahlen im Herbst 2020. Wenn sie die mit einem auch nur annähernd so guten Ergebnis gewinnen, haben sie eine Chance auf mehr Mitbestimmung, etwa um Polizei- oder Wahlreformen öffentlichkeitswirksam einzubringen. Dafür müssen sie allerdings ab jetzt gute Basispolitik betreiben. Viele der neuen Bezirksräte aus der Protestbewegung sind jung und unerfahren. 2003 hatten demokratische Kräfte nach Anti-Establishment-Protesten schon einmal einen fast ähnlichen Aufwind, der dann aber im politischen Alltag langsam versiegte.
Chinas Staatsmedien schweigen zum Wahlausgang
In den chinesischen Medien wird die Eindeutigkeit des Wahlausgangs derweil heruntergespielt und teilweise schlicht verschwiegen. Die Staatszeitungen "China Daily" und "Global Times" konzentrieren sich stattdessen auf angebliche Behinderungen der Kandidaten und nebulöse Unterwanderung durch "ausländische Kräfte". "Was auch immer für Dinge in Hongkong geschehen, Hongkong ist Teil des chinesischen Territoriums", schob Chinas Außenamtssprecher Wang Yi hinterher. Die Botschaft ist klar: Die Wahlen zwingen zu nichts. Die Selbstbestimmung endet dort, wie die Interessen Pekings beginnen. Dennoch gibt es für Lam - oder noch besser für einen Nachfolger - nur noch einen Weg: Er oder sie muss umgehend grundlegende Reformen einleiten, die die Sorgen der Menschen schnellstens auffangen.
Vieles scheint nun möglich, eines jedoch sehr unwahrscheinlich: dass Peking freie Wahlen des Stadtparlamentes im westlichen Sinne zulässt - obwohl das ein sehr sinnvolles Experiment auf einem vergleichsweise kleinen Territorium wäre, bei dem Peking viel lernen könnte. Es wäre "Ein Land, zwei Systeme" zu Ende gedacht. Und es würde mitnichten bedeuten, dass Hongkong sich von der Volksrepublik abspaltet. Das ist in Peking nämlich die tiefsitzende Angst nach dem Zerfall der Nation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Grenzen der Mitbestimmung
Selbstverständlich hat Mitbestimmung auch Grenzen. Das ist selbst in westlichen Demokratien so, wie zum Beispiel Spanien gegenüber der Provinz Katalonien zeigt. Während sich die absolute Mehrheit der Katalanen 2017 für die Unabhängigkeit ausgesprochen hat, erklärte das nationale Verfassungsgericht die Abstimmung für rechtswidrig und berief sich dabei zu Recht auf die gesetzlich verankerte Unteilbarkeit des spanischen Staates.
Das ist selbst in Deutschland so, ohne dass dort eine starke Abspaltungsbewegung existiert. Parteien, die beispielsweise die Unabhängigkeit Bayerns von Deutschland proklamieren, sind verfassungswidrig. Erst 2017 wies das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Klage mit der Begründung ab, für Sezessionsbestrebungen einzelner Länder sei unter dem Grundgesetz kein Raum. "Sie verstoßen gegen die verfassungsmäßige Ordnung."
Zeit, über den eigenen Schatten zu springen
Insofern könnte Peking das Experiment ohne Risiko wagen. "Ein Land, zwei Systeme" für immer, also. Das wäre ein Befreiungsschlag, ohne die Souveränität Chinas zu beschädigen. Im Gegenteil - es würde die politische Souveränität Pekings sogar stärken. Dass die Regierung den Mut und die Offenheit dazu aufbringt, ist derzeit leider unvorstellbar.
Aber auch für die Protestbewegung ist es jetzt an der Zeit, über ihren Schatten zu springen. Sie sollte sich an den Verhandlungstisch setzen und die Demonstrationen einstweilen ruhen lassen. Ein Waffenstillstand wäre jetzt wichtig in Peking. Demokratie und Mitbestimmung bestehen nicht darin, seine Interessen mit endloser Gewalt durchzusetzen, sondern darin, im Dialog Kompromisse zu erzielen. Nun, da die Protestbewegung diesen Wahlsieg errungen hat, ist es der richtige Zeitpunkt sich mit der Regierung zusammenzusetzen. Denn die Zeit spielt trotz dieses historischen Sieges gegen die Bewegung. Je schmerzhafter die wirtschaftlichen Folgen der Proteste werden, desto mehr Menschen in Hongkong werden sich die Frage stellen müssen, ob sie bereit sind, für diese Proteste ihre Existenz und die ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. Und vielen wird der Preis dann doch zu hoch sein.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.