Riskantes Timing gegenüber Hongkong
28. Mai 2020Es waren keine zwei Millionen Menschen wie am 16. Juni vor einem Jahr, sondern nur ein paar Tausend, die am vergangenen Wochenende trotz Corona-Versammlungsverbot gegen ein neues Gesetz aus Peking protestierten. Die Polizei setzte Tränengas ein, als die Proteste gewalttätig wurden.
Für Mittwoch hatten die Demonstranten zu einem Generalstreik aufgerufen und die Menschen aufgefordert, den morgendlichen Berufsverkehr lahmzulegen. Beides ist jedoch nicht eingetreten. Am Nachmittag kam es aber zu Ausschreitungen um das Hongkonger Parlament, das mit viel Polizei geschützt werden musste. 180 Menschen wurden festgenommen.
Direkter Angriff auf die Freiheit
Das Gesetz, um das es vor allem geht, soll "Verrat, Sezession, Aufruhr und Subversion" in der Sonderverwaltungszone bekämpfen und ist am Donnerstag als Planvom Nationalen Volkskongress in Peking im Grundsatz gebilligt worden.
Die meisten Hongkonger sehen in der sperrig betitelten "Entscheidung über die Einrichtung und Verbesserung des Rechtssystems und des Durchsetzungsmechanismus der Sonderverwaltungsregion Hongkong zur Wahrung der nationalen Sicherheit" einen direkten Angriff auf ihre Freiheit. Auch wenn sich für die meisten Menschen dadurch erst einmal nichts ändert.
Wie viele es sich derzeit noch leisten können, auf die Straße zu gehen, lässt sich schwer sagen. Die Stadt ist wirtschaftlich stark geschwächt, nach den Demonstrationen im vergangenen Jahr und der Corona-Krise in diesem.
Details noch offen
Aber es hängt auch davon ab, wie die Details des geplanten Gesetzes aussehen. Denn was die Verordnung wirklich bedeutet, ist noch offen. Bestenfalls ist es ein Warnschuss an Regierungschefin Carrie Lam, die Lage endlich in den Griff zu bekommen. Im schlechtesten Fall läutet das Gesetz das Ende des freien Hongkongs ein. Ein unverhohlener Eingriff in die Autonomie Hongkongs ist es allemal.
Der 91-jährige Tycoon und reichste Hongkonger, Li Ka-shing, rief bereits öffentlich zur Besonnenheit auf: Das Gesetz werde langfristig helfen, die Stabilität Hongkongs wiederherzustellen. "Es gibt keinen Grund für uns, besorgt zu sein", erklärte auch Regierungschefin Carrie Lam. Rechtmäßige Proteste seien in Hongkong weiterhin möglich. Das Problem jedoch: Was rechtmäßig ist und was nicht, entscheidet nun im Zweifel nicht mehr sie oder ein Hongkonger Gericht, sondern Peking.
Proteste bereits im vergangenen Jahr
Aus ähnlichem Grund sind im vergangenen Jahr die Proteste erst entflammt, die die Stadt für Monate in den Ausnahmezustand versetzten. Da ging es um einen Gesetzesentwurf, der eine Auslieferung von Straftätern und Dissidenten nach Festlandchina erleichtert hätte. Auch in diesem Fall hätte Peking die Zügel in der Hand gehabt. Das neue Sicherheitsgesetz geht insofern weiter, als dass Peking seinen Kritikern nun womöglich gleich vor Ort den Prozess machen kann. Wer wann straffällig werden kann, ist allerdings nicht klar. Darf man für mehr Demokratie demonstrieren? Oder ist man dann schon ein "Abspalter", der aus Sicht Pekings die nationale Einheit gefährdet und deshalb bestraft werden muss?
In jüngster Zeit sprachen Vertreter der Pekinger Behörden in Hongkong sogar von einem "politischen Virus", das die Stadt befallen hätte: "Je mehr Sympathisanten die Tyrannisierer haben, desto höher ist der Preis, den die Hongkonger zahlen müssen", drohten sie.
Weniger Widerstand aufgrund der Krise?
Das Timing ist Kalkül: Die chinesische Regierung hofft, dass die wirtschaftliche Schwäche Hongkongs nun dazu führt, dass die Unterstützung für die Protestbewegung in der Bevölkerung geringer ist. Die Wirtschaft ist im ersten Quartal um fast neun Prozent eingebrochen. Wenn die Rechnung aufgeht, ist die Sorge um den eigenen Job größer, als die Angst vor einer politischen Einmischung Pekings. Dass die prodemokratischen Kräfte bei den Stadtparlamentswahlen im September einen ähnlichen Erdrutschsieg einfahren wie bei den Bezirksratswahlen im vergangenen November, will die Pekinger Zentralregierung unbedingt verhindern.
Dass nur eine Minderheit der pro-demokratischen Kräfte für eine Abspaltung vom Festland eintritt, ist eine Tatsache, die Peking dabei gerne unterschlägt. Wie sich die Hongkonger entscheiden, wird sich bereits nächsten Monat abzeichnen. Das Corona-Versammlungsverbot gilt bis nach dem 4. Juni, dem Jahrestag der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung 1989, an dem traditionell tausende Hongkonger jedes Jahr öffentlich trauern.
Keine Solidarität der Festlandschinesen
Wie schon im vergangenen Jahr ist der Rückhalt in der chinesischen Bevölkerung des Festlandes für die Forderungen der Hongkonger nicht sehr groß und durch die Corona-Krise auch nicht größer geworden. Diese hätten ja sowieso schon viel mehr Freiheiten als die Festlandschinesen, lautet deren wichtigstes Argument.
Die staatliche Propaganda sorgt zusätzlich dafür, dass keine Zweifel aufkommen: Das chinesische Volk habe keinerlei Verständnis für die Demonstranten, die teilweise mit den Flaggen der USA oder der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien auf die Straße gehen, berichten die Staatsmedien. Und dass Chris Patten, der ehemalige und letzte britische Gouverneur Hongkongs, China nun als "Feind freier Gesellschaften" bezeichnet und eine offizielle Untersuchung durch die G-7-Staaten fordere, fache die "patriotische Empörung" am dem Festland nur weiter an.
Munition für Donald Trumps Wahlkampf
Dennoch spielt Peking ein riskantes Spiel: Der Vorstoß aus Peking gefährdet die Erholung Hongkongs, das ja immer noch mit großem Abstand der wichtigste Finanzplatz in China, ja sogar in ganz Asien ist. Und Peking liefert dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump mit dem Gesetz Munition für seinen antichinesischen Wahlkampf. Nun ist die Frage, was der mit dieser unverhofften Chance machen wird. Am Ende dieser Woche wolle er etwas "sehr Durchgreifendes" tun, kündigte Trump bereits an. Bereits zuvor hatte er China damit gedroht, Hongkong die Sonderrechte im Handel mit den USA zu entziehen, falls Peking seinen Einfluss auf die Stadt ausweitet. Immerhin ist Premierminister Li Keqiang bei seiner Rede vor dem Volkskongress nicht jenen Hardlinern gefolgt, die das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" für gescheitert erklären wollen, weil sich die Hongkonger nicht an die Spielregeln gehalten hätten. Li hält - immerhin - das Prinzip weiterhin hoch.
Klüger wäre es jedoch gewesen, sich zunächst in die andere Richtung zu bewegen und "Ein Land, zwei Systeme für immer" auszurufen, mit allen einst mit Großbritannien ausgehandelten Grundrechten. Der Vertrag ließe diesen Spielraum zu. Carry Lam hat Anfang Januar sogar begonnen in diese Richtung zu argumentieren: "Es gibt ausreichend Gründe anzunehmen, dass 'Ein Land, zwei Systeme' auch nach 2047 nicht geändert wird." Ähnlich formulierte es sogar Luo Huining, der neue Leiter des Pekinger Verbindungsbüros in Hongkong. Bei diesem Wort hätte die Protestbewegung die Regierung nehmen können. Das wäre ein Ausgangspunkt für Verhandlungen gewesen.
Hat Hongkong noch die Kraft zum Widerstand?
Doch der Ausbruch der Corona-Krise eine Woche später hat diesen Weg offensichtlich verschüttet. Den Hardlinern in Peking ist er zu riskant und zu umständlich, nachdem sie erfahren mussten, wie schnell und umfassend eine Krise China schwächen kann und damit anfällig für Protestbewegungen macht. Die Moderaten im Umgang mit Hongkong mussten einstweilen zurückstecken.
Dass die Mehrheit der Hongkonger nun womöglich nicht mehr die Kraft hat, dagegenzuhalten, ändert nichts daran, dass sie drei tiefsitzende Bedürfnisse verspüren: Sie wollen nicht die Abspaltung von China. Sie wollen auch die Regierung in Peking nicht stürzen. Das will nur eine radikale Minderheit. Aber sie wollen erstens sichere Rechte, die von niemandem ausgehöhlt werden. Zweitens eine Regierung, die ihnen zuhört und sich mit langfristigen Problemen ihrer Stadt beschäftigt - etwa dem schrumpfenden Arbeitsmarkt, den hohen Lebenshaltungskosten, den unerschwinglichen Wohnungspreisen und der immer größeren Schere zwischen Arm und Reich. Nach der Corona-Krise mehr denn je. Und drittens wollen sie, in welcher Form auch immer, mehr mitbestimmen. Das sind nun wirklich keine maßlosen Forderungen. Doch das neue Pekinger Gesetz geht auf keine dieser Forderung ein - im Gegenteil.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.