Ausstellung: Kinderschicksale im KZ Bergen-Belsen
14. April 2018DW: Frau Gring, Sie haben erstmals eine Ausstellung nur über die Kinder in einem deutschen Konzentrationslager kuratiert. Wie kam es dazu?
Diana Gring: Die Anfänge liegen schon in den 1990er Jahren. Damals hat Dr. Thomas Rahe, unser wissenschaftlicher Leiter, mit den ersten Forschungen zu Kindern im Konzentrationslager Bergen-Belsen begonnen und erste Kontakte zu den Überlebenden aufgebaut.
Es ist insgesamt so, dass in vielen Gedenkstätten und in der wissenschaftlichen Forschung das Thema Kinder eher unterrepräsentiert ist. Kinder sind im nationalsozialistischen Vernichtungsprozess fast chancenlos gewesen. Ein Kind, das nach Auschwitz oder Treblinka kam, wurde selektiert und fast immer direkt umgebracht.
Dieses Thema "Kinder im Konzentrationslager" ist kaum wissenschaftlich erforscht. In den letzten Jahren haben wir ganz gezielt historische Quellen und Exponate von Kindern gesammelt. Wir haben sehr viele Kontakte zu Überlebenden und durch ein Video-Interview-Projekt mehr als 120 lebensgeschichtliche Aussagen von Menschen bekommen, die als Kinder hier in Bergen-Belsen waren.
Welches Bild vermitteln diese Video-Interviews vom Leben der Kinder im Lager?
Ein sehr unterschiedliches, denn es hing von vielen verschiedenen Faktoren ab, wie die Situation eines Kindes im KZ Bergen-Belsen war: zu welchem Zeitpunkt es gekommen ist, zu welcher Verfolgten-Gruppe es gehörte, wo es vorher gefangen und wie alt es war. Und dann kam es natürlich darauf an, ob das Kind allein hierher deportiert wurde, oder mit der Mutter, mit der Familie, mit einer Gruppe. Manche haben sich, wenn die Eltern gestorben waren, als Kind ganz alleine in diesem Lager befunden.
In Bergen-Belsen gab es etwa 3500 Kinder unter 15 Jahren. Was waren das für Kinder und woher kamen sie?
In Bergen-Belsen gab es insgesamt 120.000 Häftlinge aus dem gesamten von Deutschen besetzten Europa. Dementsprechend kamen auch die Kinder aus vielen unterschiedlichen Ländern, beispielsweise aus den Niederlanden, Polen, Ungarn, Frankreich. Die allermeisten waren jüdische Verfolgte. Es waren auch Kinder hier, die zur Gruppe der Sinti und Roma gehörten und auch Kinder von Eltern, die politisch verfolgt wurden.
Können Sie das Schicksal eines einzelnen Kindes als Beispiel hervorheben?
Da gibt es ein Beispiel aus den Niederlanden: Lous Steehuis-Hoepelman heißt sie heute. Sie wurde 1941 in einer jüdischen Familie in Amsterdam geboren. Ihre Eltern waren keine praktizierenden Juden, sie waren Kommunisten und im politischen Widerstand. Als die Deportationen der Juden in den von Deutschland besetzten Niederlanden begannen, wollten sie die Dreijährige schützen, indem sie sie zu einer nicht-jüdischen Pflegefamilie gegeben haben.
Dort ist dieses Kind verraten, festgenommen, und allein in ein Gefängnis gebracht worden. Und von dort in das Durchgangslager Westerbork. Lous kam in eine Gruppe von Waisenkindern. Und von Westerbork dann nach Bergen-Belsen, und zuletzt ins KZ Theresienstadt, wo sie dann befreit wurde.
Aufgrund von glücklichen Umständen und weil es Menschen gab, die sich um Waisenkinder gekümmert haben, konnte sie überleben. Aus dieser Zeit hat sie eine Lumpenpuppe, die mit ihr in den Lagern war und die sie bis heute aufgehoben hat. Eine Nachbildung dieser Puppe zeigen wir auch in der Ausstellung.
Wie bringen Sie das Lagerleben dieser Kinder in Bergen-Belsen den Besuchern der Ausstellung nahe?
Kinder hinterlassen generell eigentlich kaum Spuren – das ist anders als bei Erwachsenen im Lager. Wir haben aber durch die Kontakte zu Überlebenden viele Exponate sammeln können: Objekte, Zeichnungen, Gedichte. Wir versuchen damit etwas von der Lebenssituation der Kinder im Lager darzustellen.
Das Herzstück der Ausstellung haben wir so aufgebaut, dass dort fünf thematische Blöcke sind. Die beschreiben, wie die Kinder untergebracht waren, in welchen sozialen Konstrukten sie sich bewegt haben, wie ihr psychischer Zustand war, welche Faktoren existenzgefährdend waren – etwa Gewalt, Hunger, der Appell. Aber auch solche Dinge wie Schulunterricht oder Spiel stellen wir dar.
Was haben denn die Kinder im Lager gespielt?
Sie haben das getan, was Kinder überall auf der Welt tun – sie haben die sie umgebende Welt nachgespielt. Sie haben also Nazi und Jude gespielt oder sie haben Leichen gezählt, die vor ihrer Baracke gelegen haben. Das war schwierig, den die Körper lagen zum Teil verschlungen übereinander. Die Beschreibung, wie die Situation der Kinder im Lager war, überlassen wir zu einem großen Teil den Überlebenden.
Wir haben eben diesen großen Schatz von 120 Interviews, in denen viele Episoden beschrieben werden – etwa, wie es war, als der Vater neben ihnen auf der Pritsche gestorben ist, wie sie mit Hunger umgegangen sind, oder was ihnen Hoffnung gegeben hat.
Sie zeigen Fotos, Dokumente, Erinnerungsstücke von Kindern, die überlebt haben, in ihrer Sonderausstellung. Welches Exponat ist für Sie ganz besonders kostbar?
Ganz spontan aus dem Bauch heraus würde ich sagen: das Foto von einem Säugling. Da gibt es das Foto von einem kleinen Mädchen, Henriette Hamburger, die zehn Monate alt war als sie hier gestorben ist. Darauf lächelt sie in die Kamera. Es ist das einzige Bild, das ihrer Familie blieb. Das geht mir am meisten unter die Haut. Wir zeigen auch ein Kapitel, das an die rund 600 Kinder erinnert, die hier ums Leben gebracht wurden.
Es gab innerhalb von Bergen-Belsen ein sogenanntes Austauschlager, indem die Nationalsozialisten Familien als Geiseln festhielten. Deshalb haben überproportional viele Kinder überlebt. Wie hat die Lager-Erfahrung deren Leben geprägt?
Dass Kinder hier überleben konnten, hat definitiv damit zu tun, dass Bergen-Belsen aus verschiedenen Lagerteilen bestand und eben in einem großen Teil Häftlinge und auch Familien als Geiseln gehalten wurden. Die Frage, wie die überlebenden Kinder mit der Lager-Erfahrung umgegangen sind, beinhaltet eine große Bandbreite. Es gibt Menschen, so genannten Child Survivors, die fast nie darüber gesprochen haben, die sich in einem jahrzehntelangen Prozess innerlich und auch nach außen erst mal selbst verstehen lernen mussten. Zum Teil kennen sie nicht mal ihre Identität.
Wir haben einen Überlebenden, der mit zweieinhalb Jahren in Bergen-Belsen befreit wurde und nichts über seine Identität weiß, der sein Leben lang versucht hat, herauszufinden: wo komme ich her, wo gehöre ich hin? Dann kam es sehr darauf an, wie die Situation der Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg war. Hatten Eltern oder Familienangehörige überlebt, waren es Waisenkinder, und sind sie in Heime gekommen?
Nun sind die Kinder von damals alte Menschen. Was bewegt diese hochbetagten Zeitzeugen heute?
Mein Eindruck aus den vergangenen Jahren ist der, dass viele Child Survivors erst jetzt, wo sie in den siebziger, achtziger Lebensjahren sind, anfangen zu begreifen, dass auch sie wichtige Zeugen sind – moralische Zeugen als Überlebende der NS-Verfolgung. Sie sind für uns heute wichtig, um zum Beispiel weiter Zeitzeugengespräche durchzuführen. Das machen wir auch mit den 20 Überlebenden, die zur Eröffnung der Ausstellung kommen werden.
Diana Gring (* 1969) ist die Kuratorin der Sonderausstellung "Kinder im KZ Bergen-Belsen" (16.04.-30.09.2018 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen). Die Historikerin ist dort zuständig für den Bereich Medien und Zeitzeugen und hat selber viele der Zeitzeugen-Interviews persönlich geführt.
Das Gespräch führte Klaus Krämer