Die Suche nach dem Gulagdorf
3. Juli 2017Einen 35-Kilo-Rucksack hat Gediminas Andriukaitis mitgenommen, mehr nicht. 500 Kilometer läuft er durch Sibirien, rund 5000 Kilometer trennen ihn von seiner Heimat Litauen. "Da passt sogar ein aufblasbares Kanu rein, es wiegt nur knapp sieben Kilo", sagt der Anführer der Expedition "Auf den Spuren der Laptewen", die am Wochenende gestartet ist. Vier Männer - Viktoras, Darius, Vigimantas und eben Gediminas - werden einen Monat lang durch Sibirien wandern und paddeln, durch Gebiete, die bergig sind und teils noch unerforscht. "Ich habe einige Medikamente dabei, hoffe aber, dass nichts Schlimmes passiert", sagt Andriukaitis. "In das nächste Dorf kommen wir erst in drei Wochen." Los geht es in Batagay Alyta, einer entlegenen Stadt im Norden von Jakutien, der kältesten und am wenigsten bevölkerten Region der Erde. Die Teilnehmer wollen das Dorf Kyusur am Fluss Lena erreichen.
Verbrechen im Zweiten Weltkrieg
Kyusur ist das letzte Überbleibsel einer Gulag-Siedlung, die einst am Ufer des Flusses stand. Tausende von Menschen, vor allem aus den baltischen Staaten und Karelien, wurden hier interniert und mussten zwischen 1941 und 1942 Zwangsarbeit leisten. Andriukaitis' Vater Vytenis, derzeit EU-Kommissar für Gesundheit, wurde hier geboren. Über den Ort ist kaum etwas bekannt, die Expeditionsteilnehmer hoffen, auf Zeitzeugen zu treffen. "Im Internet haben wir in einem Forum jemanden gefunden, der mit dem Dampfer nach Kyusur gefahren ist. Er hat die Tochter eines Gulag-Überlebenden getroffen", so Andriukaitis. "Vielleicht gibt es ja noch mehr solcher vergessener Zeugen."
Die Reisenden sind im normalen Leben IT-Unternehmer und Ingenieure, den Trip haben sie selbstständig organisiert. Zuvor sind sie schon durch den Kaukasus, die Alpen und Kamtschatka gewandert. Ein Monat Sibirien wird ihre größte Herausforderung. "Die Geschichte der Deportationen ist so furchtbar, dass wir sie nicht fassen können. Wir wollen die Orte mit eigenen Augen sehen. Wir wollen zumindest versuchen zu fühlen, was unsere Großeltern gefühlt haben. Vielleicht wird mir die eine oder andere Frage beantwortet, wenn ich am Fluss Lena stehe und mir die Landschaft angucke, die vor 75 Jahren meine Großeltern anschauen mussten", sagt Andriukaitis.
Reise in die Vergangenheit
Als sein Großvater, ein Chemielehrer, deportiert wurde, hatte er keine Zeit, einen Rucksack zu packen. Im Juni 1941 kam ein Offizier des sowjetischen Geheimdienstes zu ihm in den Klassenraum und hielt ihm eine Pistole in den Rücken. Er und seine Familie mussten in einen Zug steigen, zusammen mit anderen Lehrern, politischen Aktivisten und Ärzten. Ihnen wurde nicht gesagt, wohin die Reise geht.
Am Ende landeten die Deportierten in der Nähe der Laptewsee im Norden Russlands. Der Gulag war angelegt worden, um sowjetische Soldaten mit Fisch zu versorgen. Die hierher Deportierten sind bekannt geworden als die "Laptewen". Inspiriert zu der Reise wurden die vier Männer von einer Expedition ehemaliger litauischer Exilanten im Jahr 1989. Einer von ihnen war Vitalis Staugaitis, der mit zwölf Jahren deportiert wurde. Er blieb 18 Jahre lang in Sibirien.
"Ich habe immer noch die Bilder im Kopf von den Toten, wie sie da lagen und ihre Leichen von Füchsen angeknabbert worden waren. Sie hatten keine Ohren und Nasen mehr", erinnert sich der 88-Jährige. Allein im ersten Winter nach der Deportation starben 127 der 434 Deportierten an Hunger und Krankheiten: "Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke."
Die Erinnerung wach halten
Der Grund, warum die Gruppe jetzt nach Sibirien aufbricht? Irgendwann könnte es zu spät sein. Der Winter 2015 war der wärmste in Russlands Geschichte. Wenn der Permafrost schmilzt, könnten viele Inseln im Fluss unter Wasser geraten. "Auch auf diese Inseln wurden Litauer deportiert. Die Orte von Stalins Verbrechen werden von der Natur getilgt", sagt Andriukaitis. "Außerdem sterben nach und nach die letzten Zeitzeugen. Wir müssen ihre Erinnerung wachhalten."
Fast 400.000 Menschen wurden bis zu Stalins Tod 1953 aus den Baltischen Staaten deportiert. Viele starben. "Erst ging es vor allem darum, die intellektuelle Elite zu beseitigen, also Lehrer, Akademiker, Schriftsteller. Ohne sie war es einfacher, die Menschen durch Propaganda zu erreichen", sagt Andriukaitis. "Niemals dürfen wir das vergessen. Die Deportationen wurden so zur Tragödie nicht nur für Litauer, sondern für alle, die damals im Land lebten."