Gulag-Museum vor dem Aus
4. März 2015Es ist eine Nachricht, die von russischen Agenturen ignoriert wurde. Nur im Internet konnte man erfahren, dass die Nichtregierungsorganisation "Perm-36", Gründer und Betreiber des Museums für politische Repressionen in der Sowjetunion, am Montag nach zwei Jahrzehnten des Bestehens ihre Selbstauflösung bekannt gegeben hatte. Verhandlungen über die "Erhaltung der einzigartigen Gedenkstätte" mit der Bezirksverwaltung in Perm seien gescheitert, hieß es in einer Presseerklärung. Die Organisation sei faktisch entmachtet worden.
Jens Siegert ist darüber nicht überrascht. "Das hat sich lange angekündigt", sagte der Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung der DW . "Schon im vorigen Jahr gab es massive Angriffe auf das Museum von der Bezirksregierung in Perm." Daraufhin habe sich der Leiter des Präsidialrates für Menschenrechte, Michail Fedotow, für das Museum eingesetzt und es sei eine Kommission gegründet worden. Doch auch die Einmischung aus Moskau habe wohl nichts bewirkt, meint Siegert.
Ukrainischer Dichter als berühmtester Häftling
"Perm-36", rund 1100 Kilometer östlich von Moskau, ist das einzige Museum dieser Art in Russland. Es wurde 1992 auf dem Gelände des ehemaligen Straflagers für politische Häftlinge gegründet. Ehemaligen Häftlingen und Menschenrechtlern war es gelungen, ein ganzes Areal mit Baracken, Wachtürmen und Zäunen mit Stacheldraht zu restaurieren. 1996 empfing die Gedenkstätte ihre ersten Besucher.
Im berüchtigten GULAG-System der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion, in denen Millionen starben, hatte "Perm-36" eine besondere Stellung. Seine Geschichte begann 1946, als der sowjetische Staatschef Josef Stalin hieß. Beim Dorf Kutschino, rund 120 Kilometer von der Stadt Perm am Rande des Ural-Gebirge entfernt, wurde eine Strafkolonie zuerst für die in Ungnade gefallenen Mitglieder verschiedener staatlicher Behörden eingerichtet, später kamen Kriminelle dazu.
Seit 1972 wurden dort politische Häftlinge untergebracht. Die meisten waren Dissidenten und stammten aus den baltischen Teilrepubliken Estland, Lettland und Litauen sowie aus der Ukraine. Zu den weltweit bekannten zählten die Menschenrechtler Sergej Kowaljow und Natan Scharansky. Als berühmtester Häftling gilt jedoch der ukrainische Dichter und Übersetzer Wassyl Stus. Auf Anregung des deutschen Schriftsteller Heinrich Böll wurde Stus für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Doch der Ukrainer starb 1985 in "Perm-36" im Alter von 47 Jahren. Drei Jahre später, 1988, ließ der sowjetische Staatsführer, Michail Gorbatschow, das Lager schließen und amnestierte die Häftlinge.
Schatten des Krieges in der Ostukraine
Drei Jahrzehnte später sieht es so aus, als seien die Ereignisse in der heutigen Ukraine der russischen Gedenkstätte zum Verhängnis geworden. Nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise wurden in russischen Medien Vorwürfe gegen das Museum erhoben: Es verherrliche "ukrainische Faschisten". So werden in Russland proukrainische Aktivisten beschimpft, die gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine kämpfen. Während im Donbas eine "blutige Schlacht" tobe und "Faschisten marschierten" sei es inakzeptabel, eine Organisation zu unterstützen, die sie glorifizierte, polterte ein Lokalpolitiker der Kommunistischen Partei in Perm. Auch ehemalige Wächter des Straflagers beschwerten sich darüber, dass im Museum an "ukrainische Nationalisten" wie den Dichter Stus erinnert werde.
Die Probleme der Gedenkstätte begannen jedoch noch vor dem Ukraine-Krieg. "Seit 2012 hat sich die Einstellung der Bezirksregierung zu dem Museum radikal geändert", heißt es in der Pressemittelung von "Perm-36". Es war das Jahr, in dem Wladimir Putin zum dritten Mal Russlands Präsident wurde. Die Finanzierung vieler Projekte sei eingestellt worden. 2014 habe der Staat eine neue Verwaltung des Museums geschaffen, die Leitung ausgetauscht und die NGO dadurch entmachtet. Manche Kritiker sprachen von einer "feindlichen Übernahme".
Ein Museum, das nicht passt
Arseni Roginski, Leiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial", die an Verbrechen des Stalinismus erinnert, sieht einen Konflikt zwischen der Ausrichtung der Gedenkstätte und der neuen Stimmung in Russland. Seit Jahren versucht der Kremlchef-Putin, ehemaliger KGB-Offizier, die Sowjetunion als einen erfolgreichen Staat darzustellen, an den Russland anknüpfen solle. Zu solcher Geschichtsdeutung passt das Museum nicht. "Es ist nicht ein Museum über die glorreiche Vergangenheit, sondern über die Seiten der Geschichte, an die man sich heute mit Scham erinnert", sagte Roginski der DW. "Das Museum erzählt über Menschen, die der sowjetischen Macht Widerstand leisteten." In diesem Sinne sei es ein "Widerstandsmuseum".
Ähnlich sieht es Jens Siegert von der Böll-Stiftung. Die Gedenkstätte sei ein Opfer im vom Kreml geführten Kampf um Geschichtsdeutung. "Es ist eine Geschichte, in der die Schrecken des GULAGs und die Repressionen in der Sowjetunion nicht vorkommen dürfen", meint Siegert. Das solle jetzt "bereinigt" werden.
Noch ist unklar, wie es mit "Perm-36" weitergehen soll. Bisher gehörten das Gelände und die Gebäude dem Staat, die Museumsexponate aber der NGO. Siegert befürchtet, dass das Museum nun praktisch zerstört sei. Bereit im vergangenen Jahr habe es Versuche gegeben, Museumsgegenstände wegzubringen. Teile des ehemaligen Lagers wie das Eingangstor seien schon zerstört worden. "Man muss davon ausgehen, dass das weiter gemacht wird", sagt Siegert. Die Gründer und Mitarbeiter von "Perm-36" kündigten zwar an, ihre Arbeit fortsetzen zu wollen. Sie werde jedoch eher einen"akademischen Charakter" haben.