"Warum mein Vater?"
15. April 2013"Einfach den Tätern gegenüber sitzen und in die Augen blicken können", das hat sich Semiya Simsek jahrelang gewünscht. Als ihr Vater Enver Simsek am 9.9.2000 in Nürnberg in seinem Blumen-Transporter mit zwei Waffen aus nächster Nähe niedergeschossen wurde, war sie erst 14 Jahre alt. Am Tag nach dem Mordanschlag verhörte die Polizei Ehefrau Adile. Tochter Semiya befragte man noch in der Klinik, in der ihr Vater kurz darauf starb.
Sie war erschüttert, als die Polizei ihren Vater als Drogenhändler verdächtigte und ihre Mutter als Mörderin. Jahrelang litt sie unter den Ermittlungen. Man nahm ihrem Vater den guten Ruf, der Familie Erinnerungen wie Fotos, die seitdem verschwunden sind. Knapp 13 Jahre später blickt sie dem Verfahren gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des rechtsextremistischen "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) in München gespannt entgegen. "Ich freue mich auf diesen Prozess", sagt sie im DW-Interview, auch wenn sie wisse, das werde "keine Wahrheitskommission".
Buch mit therapeutischer Wirkung, Mahnung vor dem NSU-Prozess
Sie könne mit der Vergangenheit besser umgehen, seitdem sie ihr Buch "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater" veröffentlicht hat, erzählt Semiya Simsek: "Das war wie eine Therapie für mich, ich kann jetzt viel besser und offener darüber sprechen als vorher." Sie versteht es auch als Mahnung vor dem Prozess. Von Lesern habe sie viele positive Rückmeldungen bekommen. In der Familie wühlte das Buch vieles wieder auf. Ihre Cousins und Onkel sagten ihr, ihnen seien die Tränen geflossen. Ihr Bruder Kerim könne das Buch noch nicht lesen, weil es auch seine Geschichte sei. Er wird aber mit ihr beim NSU-Prozess in München sein.
Semiya Simsek hat für das Buch die Ermittlungsakten zum Mord an ihrem Vater intensiv studiert. Vorurteile gegen Ausländer, sagt sie, hätten die Ermittlungen jahrelang beeinflusst. Die Anwälte Stephan Lucas und Jens Rabe schreiben im Nachwort zum Buch: "Die Familie Simsek wurde nicht nur zu Opfern des NSU, sondern auch der staatlichen Behörden, ihrer Fehler und Voreingenommenheiten, ihrer Blindheit auf dem rechten Auge, ihrer Vertuschungen." Als Nebenklägerin in München will Semiya Simsek nicht nur zusehen, sondern dort ihre Fragen einbringen: Warum musste ihr Vater sterben? Nach welchen Kriterien wurden die zehn Mordopfer ausgesucht? Wie war es möglich, jahrelang unentdeckt im Untergrund zu leben? Gab es weitere Helfershelfer?
Die Sehnsucht nach Antworten auf diese Fragen überlagere bei ihr die Angst, die ein solcher Prozess bei Angehörigen der Mordopfer auslösen könnte. Auch Hass gegen die Täter verspüre sie nicht: "Ich bin wirklich so erzogen worden, dass Hassgefühle keine guten Gefühle sind und bin der Meinung, dass Hassgefühle mir selber auch schaden". Es klingt abgeklärt, wenn Semiya Simsek sagt: "Ich denke, die Täter sind es nicht wert, dass ich denen gegenüber Hassgefühle habe und selber leiden muss".
Schweigen macht Semiya Simsek wütend
Doch natürlich macht ihr der Prozess auch Sorgen. Ihre Anwälte haben sie darüber aufgeklärt, dass Beate Zschäpe auch im Prozess das Recht hat zu schweigen. Diese Vorstellung ist für die Tochter von Enver Simsek schwer zu ertragen: "Wenn sie schweigen würde, das würde mich sehr wütend machen." Sie erinnert sich an das NSU-Bekennervideo, das im November 2011 verschickt wurde. Darin waren Fotos der sterbenden Mordopfer zu sehen, die im Video rassistisch geschmäht und verhöhnt wurden. Semiya Simsek kam wochenlang nicht mehr heraus aus dem Albtraum dieser Menschenverachtung. Jetzt fordert sie: "Wenn man diesen Mut dazu hat, Bekennervideos zu verschicken, Propaganda über diese Taten zu machen, dann könnte man auch den Mut verlangen, dass sie da was aussagt und uns wenigstens diesen Drang nach Antworten nimmt."
Doch sie fürchtet auch, dass vor dem Oberlandesgericht in München die Familien der Opfer einmal mehr im Abseits stehen könnten. Die Nebenkläger und ihre Anwälte haben zwar reservierte Plätze, für Medienvertreter und weitere Angehörige aber ist extrem wenig Platz. Simsek ist im siebten Monat schwanger - wenn ihr Ehemann Fatih sie begleiten müsste, "der muss damit rechnen, dass er keinen Sitzplatz hat". Die Nebenkläger und ihre Anwälte sollten unter der Empore für die Presse sitzen. Damit würden die Frauen, Töchter, Söhne, Geschwister und Eltern der Mordopfer von der Öffentlichkeit wieder nicht gesehen, sagt Semiya Simsek: "Wir kommen zu kurz und ich muss damit rechnen, dass ich den Zeugen einfach nicht ins Gesicht schauen kann, sondern nur den Hinterkopf sehe, weil ich zu weit hinten sitze. Das kann doch kein Zustand sein."
Das Misstrauen in der Türkei ist gewachsen
Nach ihrer Verlobung zog die junge Frau im Frühjahr 2012 in die türkische Heimat ihrer Eltern in die Provinz Isparta. Auch dort blicke man sehr gespannt auf den Prozess. Nach den jahrelangen erfolglosen Ermittlungen und Fehlern der Behörden wie der Aktenvernichtung nach dem Auffliegen des NSU-Terrors im Herbst 2011, fragten viele Türken: "Wie konnte das in Deutschland, in so einem bürokratischen, ordnungsgemäßen Land, passieren?"
Das Misstrauen gegenüber Deutschland sei gewachsen, beobachtet Simsek: "Die sagen, 'die wollten das bestimmt vertuschen'. Was da alles schiefgelaufen ist, es läuft ja noch schief." Man sei empört gewesen, weil für den türkischen Botschafter kein Platz im Prozess-Saal reserviert werden sollte. Semiya Simsek, die in Deutschland aufgewachsen ist und dort ihre Heimat sieht, kann das verstehen: "Wenn so ein Prozess in der Türkei stattfinden würde und die würden sagen, der deutsche Botschafter hat keinen Platz - wie würden wir reagieren?"
Aufklärungs-Versprechen und Aktenvernichtung passen nicht zusammen
Das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat habe sie verloren, sagt Simsek. Im Februar 2012 hat sie bei der offiziellen Gedenkfeier für die NSU-Opfer in Berlin nach Kanzlerin Angela Merkel für die betroffenen Familien gesprochen. Sie sprach an der Seite von Gamze Kubasik, deren Vater als achtes NSU-Mordopfer am 4.4.2006 mit derselben Waffe wie schon Enver Simsek erschossen wurde.
Die Töchter sind befreundet und wollen Präventionsarbeit leisten. "Mein Vater ist gestorben, ihr Vater ist gestorben, daran können wir nichts mehr ändern", sagt Semiya Simsek, "aber wir können etwas ändern für die Zukunft, dass solche Morde nicht noch mal passieren". Sie glaubt: "Hätte man wirklich intensiv richtig ermittelt - ich bin der Meinung, dass das eine oder andere Opfer noch am Leben sein könnte".
Kanzlerin Merkel entschuldigte sich im Februar 2012 bei den Angehörigen für die jahrelangen falschen Verdächtigungen und versprach Aufklärung. Dann aber wurde bekannt, dass Behörden Akten vernichtet und Aussagen verweigert hatten. "Das ist für mich ein Widerspruch", sagt Semiya Simsek. Sie will die Kanzlerin darauf ansprechen, wenn diese sich wie angekündigt noch einmal mit den Familien der Opfer trifft. "Ich möchte diesem Land wieder vertrauen können und ich werde es an diesem Prozess messen", kündigt Simsek an.
"Die nehmen uns nicht mit ins Boot"
Über das Thema Integration hat Semiya Simsek früher nie nachgedacht. Als Kind von Zuwanderern wuchs sie in Deutschland auf. Sie hatte deutsche, türkische und italienische Nachbarn und Freunde. Die Morde der Neonazis, einseitige Ermittlungen und rassistische Begriffe wie "Döner-Morde", die eine Weile die Medien dominierten, haben sie nachdenklich gemacht: "Ich bin der Meinung, dass wir uns zu Deutschland bekennen, aber dass Deutschland sich nicht zu uns bekennen will. Die nehmen uns nicht mit ins Boot". Dabei habe sich auch ihr Vater nach seiner Zuwanderung aus der Türkei sehr gut integriert: "Er ist vom Hilfsarbeiter zum Blumen-Großhändler geworden. Er hat seine Steuern bezahlt. Muss er wirklich blond sein, damit er integriert ist?"
Semiya Simsek ist Sozialpädagogin. Sie wünscht sich, dass mehr investiert wird in die Prävention gegen Rechts und nennt als Beispiel die Jugendarbeit in Ostdeutschland. Medien, Politik und jeder einzelne müssten Verantwortung übernehmen. Im Juli soll ihr Baby in Deutschland zur Welt kommen: "Das Kind soll selber entscheiden, wo es mal leben will und wo es mal studieren möchte, ich lasse ihm die offenen Türen", sagt Semya Simsek. Offenheit wünscht sie sich auch für ihre Heimat Deutschland: "Dass man Fremden wirklich ohne Vorurteile gegenüber steht. Man soll Straßenfeste zusammen feiern, man soll alles zusammen machen". Die Vielfalt solle man schätzen, sagt sie, "das ist ein Reichtum für Deutschland".