NSU-Mordserie erschüttert Deutschland
13. April 2013Am 4. November 2011 wird in Eisenach eine Bank überfallen. Die beiden Täter erbeuten 70.000 Euro und flüchten auf Fahrrädern. Aufmerksame Zeugen geben der Polizei wertvolle Hinweise. Schon zwei Stunden nach der Tat nähern sich Beamte einem verdächtigen Wohnmobil, das kurz danach in Flammen aufgeht. In dem Fahrzeugwrack werden die Leichen von zwei Männern entdeckt, die sich das Leben genommen haben. Bei den Toten handelt es sich um die Ende der 1990er Jahre untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
In diesem Moment ahnt noch niemand die Tragweite des Kriminalfalls. Das Ganze wird immer rätselhafter, als am Nachmittag desselben Tages in Zwickau nach einer Explosion ein Haus ausbrennt, in dem die rechtsextremistischen Bankräuber zusammen mit einer Frau namens Beate Zschäpe gewohnt hatten. Bei der Spurensicherung fällt der Polizei unter anderem jene Waffe in die Hände, mit der im April 2007 in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen wurde.
Makaberes Bekennervideo
Außerdem entdecken die Fahnder in den Trümmern ein makaberes Video, in dem sich die Autoren ihrer seit September 2000 begangenen Morde rühmen. Bei den Opfern handelt es sich neben der Polizistin um neun Männer mit Migrationshintergrund. Das menschenverachtende Bekennervideo ist der Schlüssel zur Aufklärung einer Mordserie, an der die Polizei schon lange verzweifelte. Denn plötzlich stellt sich heraus, dass die Ermordung von acht Kleinunternehmern mit türkischen Wurzeln und einem Griechen mutmaßlich auf das Konto des Terror-Trios geht, das sich selbst "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nennt.
Der damalige Bundespräsident Christian Wulff bringt sein Entsetzen stellvertretend für alle zum Ausdruck. "Menschen mitten unter uns wurden Opfer von tödlichem Hass und rechtsextremistischer Gewalt. Ich bin darüber sehr erschüttert und teile die Empörung der Menschen in Deutschland", sagt Wulff wenige Tage nach dem Auffliegen des NSU. "Wir gedenken der Toten und teilen hoffentlich jetzt sehr viel intensiver das Leid ihrer vielen Angehörigen", mahnt das Staatsoberhaupt.
"Döner-Morde" und andere verbale Entgleisungen
Das Tatmotiv ist also Fremdenhass, menschenverachtender Rassismus. Die Strafverfolger hingegen waren sich ziemlich sicher, dass es sich bei der unheimlichen Mordserie um Racheakte im türkisch dominierten Mafia-Milieu handelt. Eine Vermutung, die sich auch in der Medienberichterstattung widerspiegelte. Von "Döner-Morden" war all die Jahre bedenken- und geschmacklos die Rede. In welche Richtung hauptsächlich ermittelt wurde, belegt auch der Name einer erfolglosen Ermittlungsgruppe, die Sonderkommission "Bosporus" hieß.
Unter dem Eindruck der wahren Hintergründe stellt sich Bundespräsident Wulff im November 2011 naheliegende Fragen, die alle bewegen: Ist das Land den Opfern und ihren Hinterbliebenen gerecht geworden? Hätte man nicht früher einen rechtsextremistischen Hintergrund vermuten müssen? Wurden die Protagonisten rechtsextremer Kreise ausreichend beobachtet? Und vor allem: "Haben wir uns möglicherweise selbst von Vorurteilen fehlleiten lassen? Wie stellen wir sicher, dass der Staat seiner Schutzfunktion in allen gesellschaftlichen Bereichen nachkommt?"
Bundeskanzlerin Merkel bittet um Verzeihung
Diese Fragen sind auch eineinhalb Jahre später noch nicht abschließend beantwortet. Zu groß ist die Zahl der Ungereimtheiten insbesondere im Bereich der Sicherheitsbehörden. Denn der Verfassungsschutz kannte die mutmaßlichen Täter seit den 1990er Jahren und verlor trotz intensiver Beobachtung unter ungeklärten Umständen ihre Spur. Mit dem Versagen der Sicherheitsdienste befassen sich seit gut einem Jahr mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundes und der Länder. Der langjährige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm, legt sein Amt im Sommer 2012 nieder. Auslöser ist die angeblich ohne sein Wissen erfolgte Vernichtung wichtiger Akten in seiner Behörde.
Die Bundeskanzlerin verspricht den Hinterbliebenen der Opfer schonungslose Aufklärung. Sie empfinde Scham und Trauer, sagt Angela Merkel unter dem Eindruck der Mordserie. Auf der zentralen Gedenkfeier in Berlin nennt sie es im Februar 2012 "beklemmend", dass die Täter jahrelang vor allem im Umfeld der Opfer-Familien gesucht wurden. "Dafür bitte ich Sie um Verzeihung", sagt Merkel zu den Angehörigen.
Die Trauer der Hinterbliebenen
Bewegend sind die Worte der Angehörigen der Opfer. Semiya Simsek, Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Simsek, quält sich nach eigenem Bekunden mit der Frage, ob Deutschland noch ihr zuhause sei. "Ja" lautet ihre eindeutige Antwort trotz allen Leids. "Aber wie soll ich mir dessen noch gewiss sein, wenn es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen und die zu Mördern werden, nur weil meine Eltern aus einem fremden Land stammen?" Ihre Zerrissenheit hat Semiya Simsek kürzlich in einem Buch dokumentiert – "Schmerzliche Heimat" lautet der vielsagende Titel.
Ihr Appell auf der Berliner Gedenkveranstaltung dürfte vielen noch in den Ohren klingen: "Die Politik, die Justiz, jeder Einzelne von uns ist gefordert." Sie und die anderen hätten ihre Familienangehörigen verloren. "Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert!", bittet Semiya Simsek. Zeichen der Anteilnahme, die mehr als Worte sind, gibt es durchaus. So kümmert sich die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John im Auftrag der Bundesregierung um die Angehörigen. Neben seelischem Beistand geht es auch um materielle Ansprüche, beispielsweise Opferrenten.
Türkische Gemeinde sieht zunehmenden Rassismus
Insgesamt aber ist Barbara John unzufrieden mit den Maßnahmen, die seit dem Bekanntwerden des NSU getroffen wurden. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, kritisiert sie das "Eigenleben" der Sicherheitsbehörden. Nötig sei vor allem ein Mentalitätswandel. Kolat spricht von zunehmendem Rassismus in Deutschland und verlangt angesichts des Versagens des Verfassungsschutzes seine Auflösung. "Er gefährdet den demokratischen Rechtsstaat", meint der Gemeinde-Funktionär.
Strafrechtlich geht die Aufarbeitung der Mordserie jetzt in ihre entscheidende Phase. Am 17. April beginnt am Oberlandesgericht (OLG) in München der Prozess gegen die Hauptverdächtige, Beate Zschäpe, die sich wenige Tage nach dem Bekanntwerden des von ihr mitbegründeten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) der Polizei stellte. Neben Zschäpe müssen sich vier mutmaßliche Mittäter und Helfer vor dem OLG verantworten. Die Ankläger verdächtigen sie der Bildung einer terroristischen Vereinigung, eben des NSU.
Diskussion über NPD-Verbot dauert an
Einer der Angeklagten, Ralf Wohlleben, ist im Nazi-Milieu kein Unbekannter. Er war Funktionär der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) und hatte enge Kontakte zu den mutmaßlichen NSU-Mördern. Manche halten die offen rechtsextreme Partei für den politischen Arm der gewaltbereiten Szene. Ob die personellen Verbindungen zum NSU ausreichen, um die NPD zu verbieten, ist unter Experten stark umstritten. Ein Verbot kann ausschließlich vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden. Ende 2012 hatte der Bundesrat, die Kammer der 16 Bundesländer, einen Verbotsantrag gestellt. In einem erfolgreichen Verfahren müsste der NPD eine "aggressiv-kämpferische" Haltung gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat nachgewiesen werden.
Die Innenminister von Bund und Ländern sammeln seit gut einem Jahr belastendes Material gegen die NPD, das ihres Erachtens die Verfassungsfeindlichkeit der Partei belegt. Skeptiker, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, sorgen sich dennoch um die Erfolgsaussichten. Ein erster Versuch, die 1964 gegründete Partei zu verbieten, scheiterte 2003 wegen der vielen Spitzel (V-Leute) des Verfassungsschutzes in der NPD-Führungsebene. Dieses Mal sollen die Beweise frei von fragwürdigen Informanten sein, beteuern die Innenminister.
Türkische Journalisten nun doch beim Prozess
Allgemein wird damit gerechnet, dass es zu einem zweiten NPD-Verbotsverfahren kommt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes steht allerdings noch aus. Und zunächst richten sich alle Blicke auf den bevorstehenden NSU-Prozess in München. Nach einigem Hickhack werden dabei nun doch einige türkische Medien einen festen Platz im Pressebereich erhalten. Sie profitieren von der erfolgreichen Verfassungsklage einer türkischen Zeitung gegen das umstrittene Akkreditierungsverfahren des Oberlandesgerichtes München. Dabei waren fast nur inländische Medien zum Zuge gekommen.
Über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes freut sich nicht zuletzt der deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit eines Gerichtes dürfe nicht übersehen werden, "dass dieses Verfahren auch das Bild Deutschlands in der Welt beeinflussen, in einigen Regionen sogar prägen kann", teilt Westerwelle eine weit verbreitete Einschätzung.