Hoffen auf den Uni-Neustart
16. Oktober 2021Es war ihr erster Kneipenbesuch als Studentin in Deutschland: "Ich hatte ganz vergessen, wie es ist, unter Leute zu kommen", erzählt Elena Silvestre. In ihrer spanischen Heimat Valencia habe sie seit eineinhalb Jahren keine Bar mehr von innen gesehen. "Monatelang waren wir im Lockdown, mussten von zu Hause aus studieren. Es gab Ausgangssperren, wir durften zeitweise nicht einmal auf die Straße gehen." Jetzt ist die Astronomie-Studentin für ein Auslandssemester nach Bonn gezogen. Gerade zur richtigen Zeit! Denn nach drei Semestern im Pandemie-Modus nimmt das Studierendenleben in Deutschland wieder Fahrt auf.
Lange war es den knapp drei Millionen Studierenden in Deutschland nicht anders als Silvestre in Spanien ergangen. Der erste Lockdown im März 2020 hatte sie in ihre eigenen vier Wände verbannt. Fortan waren Distanzlehre und Online-Unterricht angesagt. Auch die rund 320.000 internationalen Studierenden hierzulande lebten damit in Isolation.
Einsam und weit weg von zu Hause
"Die internationalen Studierenden saßen während der Pandemie lange Zeit in einem fremden Land nur vor ihrem Bildschirm und haben niemanden kennengelernt", so Isabelle Kappus von der Servicestelle Interkulturelle Kompetenz des Deutschen Studentenwerks. "Dieses Alleinsein war sehr schmerzlich, und es ist wichtig, dass wieder Kontaktmöglichkeiten entstehen." Für Kappus sei gerade eines entscheidend, damit sich Studierende aus dem Ausland wieder in Deutschland wohlfühlen können: "Präsenz, Präsenz, Präsenz!"
Auch Andrés Muñoz von der studentischen Initiative Gauss-Friends weiß, wie wichtig Angebote vor Ort für internationale Studierende sind: "In der Pandemie fühlten sich die Studierenden teilweise isoliert, hatten Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Sie hatten keinen Austausch mit deutschen Studierenden und darum keine Möglichkeiten, im Alltag Deutsch zu reden. Dadurch hatten viele nicht zuletzt Probleme bei den Klausuren."
Gauss-Friends: Internationale halten zusammen
Muñoz kam vor sieben Jahren selbst aus Mexiko nach Deutschland, um zu studieren. Als Vorstand von Gauss-Friends hilft er nun anderen Internationalen dabei, sich an seiner Uni, der TU Braunschweig, zurechtzufinden. "Früher war der Schlüssel für unseren Erfolg die Kontinuität", sagt er. "Jeden Dienstag, egal ob während der Prüfungsphasen oder in den Semesterferien, hatten wir unsere Vereinsräume geöffnet, und die neuen Studierenden aus dem Ausland kamen bei uns vorbei."
Mit der Pandemie mussten sich die Gauss-Friends von einem Tag auf den anderen digital aufstellen. Online-Stammtische und Telefonsprechstunden wurden eingerichtet. Jedoch: "Wir merkten, dass für viele die Hürden zu hoch waren sich zu melden, anstatt wie früher einfach vor Ort zu uns zu kommen." Die digitalen Angebote seien kaum angenommen worden. Manche Hilfen kann man nicht digitalisieren. Wenn es die Pandemie-Lage hergab, packten Muñoz und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter weiter in Präsenz an.
Gurudutt Prabhakar aus Indien ließen sie zum Beispiel nicht alleine, als er im September 2020 zum Masterstudium nach Deutschland kam. "Ein Buddy von Gauss-Friends hat mich vom Bahnhof abgeholt", erinnert sich Prabhakar. "Das war eine große Hilfe. Ich musste meine großen Koffer nicht alleine tragen." Später habe er alle Angebote der Gauss-Friends für neue internationale Studierende besucht: die Campus-Tour, die Stadtführung und auch das Webinar darüber, wie man sich im Online-System für die Uni-Prüfungen anmeldet. "Ohne diese Veranstaltungen wäre mein Einstieg in Deutschland nicht leicht gewesen."
Online, aber persönlich
Nicht nur studentische Initiativen wie Gauss-Friends kümmern sich um die Neuankömmlinge aus dem Ausland. Eine wichtige Rolle vor Ort spielten die jeweiligen Hochschulen selbst und die Studierendenwerke, erklärt Expertin Kappus vom Deutschen Studentenwerk. "Die Kollegen orientieren sich bei ihrer Arbeit an den Anforderungen vor Ort und gucken ganz genau, was ihre Studierenden brauchen." In der Pandemie hätten die Studierendenwerke schnell reagiert und ihre Angebote digitalisiert.
So auch das Studierendenwerk Freiburg-Schwarzwald. Mithilfe von Workshops, einem Sprachcafé-Programm, Exkursionen und Studienreisen schafft man hier Begegnungen zwischen Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen. Dafür gibt es einen eigenen Internationalen Club. "Der erste Lockdown", sagt dessen Projektleiter Andreas Vögele, "war ein Schlag ins Gesicht." Von mehrtägigen Schwarzwaldcamps bis hin zu Events rund um Freiburg - alle anstehenden Veranstaltungen des Sommersemesters seien im Jahr 2020 ausgefallen. Dann aber "haben wir nahezu ausschließlich online eine sehr gute und erfolgreiche Arbeit gemacht, um internationale Studierende zueinander zu bringen und der Einsamkeit vieler entgegen zu wirken."
Vögele und der Internationale Club setzten auf kreative Streaming-Angebote: Koch- und Backsessions, an denen Studierende über ihre eigenen Computer von zu Hause aus teilnehmen konnten, digitale Weinverkostungen oder Sprachlern-Workshops. Vögele: "Wir haben dieser Entbehrung, dieser Gefahr zu vereinsamen, entgegengewirkt." In das neue Wintersemester startet der Internationale Club wieder mit Präsenz-Veranstaltungen. Hybrid-Events, die sowohl online als auch vor Ort stattfinden, sollen dann ein fester Teil des Angebots sein. "Wenn die Online-Angebote im nächsten Semester gut angenommen werden, können wir sie vielleicht auch dauerhaft beibehalten."
Präsenz bringt Hoffnung
Optimistisch blicken auch die deutschen Hochschulen angesichts einer hohen Impfquote unter Studierenden und neuen staatlichen Regelungen auf das Wintersemester. Die Deutsche Hochschulrektorenkonferenz will die Lehre so lange wie möglich in Präsenz durchführen: Wer geimpft, getestet oder genesen ist, kann seit Oktober wieder zur Uni gehen.
Gauss-Friends geht ebenfalls wieder an den Start. "Seit einigen Wochen sind wir wieder mit der 3G-Regel geöffnet und gerade dabei, den Betrieb wieder zu starten", so Vereinsvorstand Muñoz. Auf manch neue digitale Lösung will man hier nicht verzichten. Die neue Gauss-Friends-App mit Infos rund ums Studium in Braunschweig erweitert die Gruppe um neue Features. Und auch kommende Event-Formate, findet Muñoz, könne man in Zukunft weiterhin live im Netz streamen.
Astonomie-Studentin Silvestre sieht die kommenden Wochen ihres Auslandsstudiums in Bonn gelassen. "Was mich genau erwarten wird, weiß ich nicht. Gerade kann sich alles ändern, zum Beispiel wenn es eine neue Welle in der Pandemie gibt", sagt sie. "All meine Kurse, so sieht es aus, werden vor Ort stattfinden." Dass sie anders als in den vergangenen drei Semestern wieder abends ausgehen und auch die Uni wieder von innen sehen kann, stimmt sie hoffnungsvoll: "Es gibt so viel Freiheit - ich fühle mich, als könnte ich im Grunde alles tun."