Selenskyj will Auflösung des Parlaments
20. Mai 2019Wolodymyr Selenskyj hat es sehr eilig. Bereits wenige Minuten nachdem der neue Präsident der Ukraine am Montagmorgen im Plenarsaal der Werchowna Rada sein Amtseid geschworen und Insignien der Macht, darunter eine Kosaken-Keule, erhalten hatte, verkündete er die Auflösung des Parlaments. Auch die Regierung solle "Platz machen", sagte der 41-jährige politische Neuling und frühere Fernsehkomiker, der bei der Präsidentenwahl im April mit 73 Prozent der Stimmen den Amtsinhaber Petro Poroschenko geschlagen hatte.
Die Eile hat damit zu tun, dass der neue Präsident nur Zeit bis zum 27. Mai hat, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Danach greift eine Art Schonfrist, die das Parlament sechs Monate im Vorfeld einer regulären Wahl vor Auslösung schützt. Die nächste Parlamentswahl in der Ukraine ist für Ende Oktober geplant, doch nun könnte sie bereits in zwei Monaten, im Juli stattfinden.
Präsident ohne Parlamentsmehrheit
In seiner Antrittsrede - wie auch schon zuvor in seinen Videobotschaften - stellte sich Selenskyj in sozialen Netzwerken als Rächer im Namen des Volkes dar. Mit seiner Wortwahl erinnert er an den Titelheld der beliebten TV-Comedyserie "Diener des Volkes", in der Selenskyj einen zufällig zum Präsidenten gewählten Schullehrer spielt. Der neue Präsident machte klar, dass er auf Konfrontation mit Parlament setzt, das bei vielen Ukrainern sehr unbeliebt ist.
Überraschend war die Parlamentsauflösung jedenfalls nicht. Seit Monaten wurde darüber spekuliert, dass Selenskyj nach seinem historisch hohen Sieg die Gunst der Stunde nutzen möchte, um seine eigene Partei mit einer möglichst großen Zahl an Abgeordneten ins Parlament zu bringen. Ohne eine eigene Partei im Parlament sind Selenskyj in vielen Fragen die Hände gebunden, denn das eigentliche Machtzentrum ist laut Verfassung die Regierung. Der Präsident darf nur einzelne Minister ernennen, darunter den Außen- und den Verteidigungsminister.
Umfragen sehen die bisher kaum bekannte Partei von Selenskyj, die er nach seiner TV-Serie "Diener des Volkes" benannt hatte, mit rund 30 Prozent oder sogar mehr mit großem Abstand vor anderen Parteien. Ob solche Beliebtheitswerte bis zur regulären Parlamentswahl im Herbst halten, ist allerdings fraglich. Darin dürfte der wahre Grund von Selenskyjs Entscheidung liegen, das Parlament aufzulösen, schätzen Beobachter.
Juristisches Kräftemessen um Neuwahlen?
Ob es tatsächlich zu Neuwahlen kommt, dürfte sich in den kommenden Tagen entscheiden. Denn am vergangen Freitag versuchte "Volksfront", die regierende Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, eben dieses Szenario zu durchkreuzen. Sie verkündete ihren formellen Austritt aus der Koalition mit dem "Petro Poroschenko Block". Das Parlament hat nun 30 Tage Zeit, eine neue Koalition zu bilden. Erst nach dem Scheitern der Gespräche dürfte der neue Präsident das Parlament auflösen - so weit die Theorie. Doch dann wäre es für eine Auflösung wegen der Schonfrist zu spät.
Selenskyj dagegen argumentiert, dass die Koalition im Parlament bereits seit drei Jahren nicht mehr existiere. In der Tat zerfiel die 2014 gegründete Koalition mit dem Namen "Europäische Ukraine" im Februar 2016.
Damals wechselten drei Parteien in die Opposition, darunter die "Vaterlandspartei" der früheren Regierungschefin Julia Tymoschenko. Geblieben war eine Allianz von "Volksfront" und "Poroschenkos Block", die sich mit Hilfe von fraktionslosen Abgeordneten wechselnde Mehrheiten verschafft hat. Es ist jedoch nicht bekannt, welche Abgeordneten namentlich diese Koalition bilden. Vor diesem Hintergrund sei eine juristische Grundlage für Selenskyj Vorgang bereits vorhanden, berichten ukrainische Medien.
Gefahr einer politischen Lähmung
Ob es im ukrainischen Parlament bis zum vergangenen Freitag eine Koalition gab oder sie bereits früher zerbrach - diese Frage dürfte bald Gerichte beschäftigen und am Ende vor dem Verfassungsgericht landen. Dort gab es erst vor wenigen Tagen einen Wechsel an der Spitze: Der Vorsitzende Richter wurde am 14. Mai durch ein Misstrauensvotum von seinen Kollegen abgesetzt. Ob es einen Zusammenhang mit der Parlamentsauflösung gibt, bleibt eine Spekulation.
Sollte es zu einem Machtkampf zwischen Präsident und Parlament um Neuwahlen kommen, dürfte das die ohnehin politisch und wirtschaftlich lange geschwächte Ukraine zusätzlich lähmen.