"Sehen Sie, die kann arbeiten"
27. Januar 2016"Ich werde ihnen jetzt also ein bisschen über meine Erfahrungen erzählen", beginnt die 84-jährige Zeitzeugin ihre Rede im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Ruth Klüger, 1931 in Wien geborene Literaturwissenschaftlerin, war Zwangsarbeiterin und überlebte das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die wenigen verbliebenen Insassen wurden am 27. Januar 1945 von sowjetischen Soldaten befreit. Das damals 13-jährige Mädchen konnte sich schon vorher mit einer Notlüge retten.
Als die Nazi-Schergen Häftlinge für den Arbeitsdienst suchten, machte sich die kleine Ruth ein bisschen älter. Denn die Auserwählten mussten mindestens 15 sein. "Sehen Sie, die kann arbeiten", habe eine KZ-Aufseherin unter Verweis auf die dicken Waden des Kindes gesagt. Mit diesem Trick entging Ruth Klüger dem Gas. Alle anderen, mit denen sie zuvor aus dem KZ Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden war, wurden ermordet.
Viele Frauen wurden im KZ als Prostituierte missbraucht
Es ist still im Reichstagsgebäude, als die zierliche Dame über ihre Leiden damals und ihr Leben danach berichtet. Lediglich das Flüstern der Dolmetscher ist manchmal zu hören, wenn man neben ausländischen Gästen mit Kopfhörern sitzt. Ruth Klüger erinnert an den Winter 1944/45. Es war der kälteste, an den sie sich erinnern kann. "Kälte, der man hilflos ausgesetzt ist, bleibt für mich immer Erinnerung an Zwangsarbeit." Gemeinsam mit der Mutter musste sie im Wald Bäume fällen, Stümpfe wegtragen, Schienen schleppen. "Es sollte wohl etwas gebaut werden." Was genau, hat sie nie erfahren.
Manchmal sei sie an Privathaushalte ausgeliehen geworden, manchmal musste sie im Steinbruch arbeiten. Dort sei es "zum Verrecken kalt" gewesen. Die Kleidung zu dünn, Zeitungspapier an den Füßen, vereiterte Wunden an den Beinen. "Vom Steinbruch träume ich manchmal noch", sagt Ruth Klüger sieben Jahrzehnte später in der Gedenkstunde und liest ein Gedicht vor, das von den Qualen und Hoffnungen von damals handelt. Ihre Mutter musste mit vielen Männern Rüstungsgüter für den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg herstellen. Ruth Klüger erwähnt auch eine Arbeit für weibliche Häftlinge, die später nicht als Zwangsarbeit anerkannt worden sei: Prostitution. Ständig seien die Frauen in Gefahr gewesen, krank oder schwanger zu werden.
Den Satz "Wir schaffen das!" findet Ruth Klüger heroisch
Ihr eigenes Schicksal bezeichnet Ruth Klüger als "nicht bemitleidenswert". Sie habe Glück gehabt. Sie hat überlebt, Millionen andere nicht. Beim Schienenlegen kam sie mal mit einem neugierigen Mann aus der Zivilbevölkerung in Kontakt. "Ich hätte ihn gerne dazu gebracht, mir ein Schmalzbrot zu schenken", erzählt die aus Österreich stammende Frau. Und dabei klingt sie so typisch wienerisch, als hätte sie ihre Geburtsstadt niemals verlassen. Doch der Fremde "fraß mit Genuss, während er mir vom hungernden Deutschland erzählte".
Am Ende ihrer 25-minütigen Rede geht Ruth Klüger auf die deutsche Erinnerungskultur und die aktuelle Flüchtlingssituation ein. Sie lobt Deutschland für seine Politik der "geöffneten Grenzen und Großzügigkeit". Dafür sei sie von "Verwunderung zur Bewunderung" übergegangen. Die Holocaust-Überlebende und ehemalige Zwangsarbeiterin bedankt sich ganz zum Schluss mit einem "schlichten und heroischen" Spruch: "Wir schaffen das." Minutenlang applaudieren die Politiker im Plenarsaal des Bundestages und die vielen Gäste auf der Besucher-Tribüne.
Unterstützung für Kanzlerin Merkel
Dann geht die sichtlich bewegte Ruth Klüger ganz bescheiden zu den Vertretern der deutschen Verfassungsorgane in der ersten Reihe. Nacheinander nimmt sie den Dank von Bundespräsident Joachim Gauck, Bundesratspräsident Stanislaw Tillich und Bundeskanzlerin Angela Merkel entgegen. Merkels in jüngster Zeit so oft kritisierter Satz - "Wir schaffen das" - hat in diesem Moment einen ganz anderen Klang. Parlamentspräsident Norbert Lammert schließt sich Ruth Klügers letzten Worten ausdrücklich an.