Seenotrettung - was ist geplant und wo liegen die Probleme?
20. September 2019Hinter dem aktuellen Streit um Bootsflüchtlinge steckt ein noch viel größerer Streit, nämlich der um feste Verteilquoten für Migranten in der EU. Es waren die Deutschen, die im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 über die EU-Kommission einen "solidarischen Verteilmechanismus" vorschlugen. Doch einige Länder - allen voran Polen und Ungarn - wollen sich bis heute nicht verpflichten lassen, Migranten auf diesem Wege aufzunehmen. Sie plädieren stattdessen für einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen, doch damit geht es nur langsam voran.
Auch an anderer Stelle stockt es. Eigentlich gibt es nämlich ein ausgeklügeltes Regelwerk für die Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU, die so genannten "Dublin"-Regeln. Seit Jahren und trotz mehrerer Anläufe aber kommt eine Reform nicht voran. Auf eine Reform drängen vor allem die Mittelmeer-Anrainer. Denn laut "Dublin" müssen sich diejenigen Staaten um Flüchtlinge kümmern, in denen Flüchtlinge zuerst EU-Boden betreten haben - und das trifft in erster Linie Griechenland, Italien und Spanien. Viele hoffen auf die neue EU-Kommissionspräsidentin, die Deutsche Ursula von der Leyen. Ein Gesetzespaket zur Reform der Dublin-Regeln hängt seit Jahren fest. Von der Leyen hat einen Neustart auf ihrer Agenda. Sie ist langjährige Vertraute von Kanzlerin Merkel.
Schnelle Lösung für Bootsflüchtlinge angedacht
Die Situation der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer verschlimmerte sich in den vergangenen Monaten auch, weil die bisherige EU-Lösung wegfiel. Nach vier Jahren wurde die EU-Marine-Mission "Sophia" im Frühjahr 2019 eingestellt. Tausende Migranten waren mit Marine-Schiffen aus dem Mittelmeer gerettet worden. Doch Italiens damalige Regierung verweigerte eine Verlängerung der Mission mit der Begründung, es fehle ein EU-weiter Verteilmechanismus.
Doch Bootsflüchtlinge kamen weiter, nach Schiffbruch nun vor allem mit privaten Rettungsschiffen. Weil Italien die Einfahrt in seine Häfen versperrte, hatten die Menschen zuletzt wochenlang auf den Schiffen ausharren müssen. Parallel wurde in einer Art Telefon-Diplomatie zwischen den EU-Staaten verhandelt, wer sie aufnehmen könnte. Deutschland hatte sich mehrfach dazu bereit erklärt.
Nun soll eine feste Aufnahmequote einiger EU-Staaten die Situation entschärfen. Bei einem Treffen in Malta wollen fünf EU-Innenminister zusammen mit Vertretern der EU-Kommission darüber beraten. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer hatte eine feste Quote für Deutschland in Aussicht gestellt. Die Rede war von einem Viertel. Bis zu einer Gesamtlösung sei eine solche Interimslösung besser als das derzeitige Verfahren, hieß es.
Wie sehr Berlin auf eine Lösung drängt, zeigt ein Rückblick. Ursprünglich hatte Seehofer nämlich ganz andere Pläne. Die Flüchtlinge sollten auf sogenannten "Ausschiffungsplattformen" in Nordafrika, also in spezielle Lager zurückgebracht werden und dort ein Asylverfahren durchlaufen. Doch es fanden sich dort keine Länder, die mitmachen wollten. Nun also ein neuer Versuch.
Sorge vor Pull-Effekten
Aber auch innenpolitisch stoßen Lösungsvorschläge auf Widerstand. Seehofer bekam viel Kritik aus der eigenen Parteienfamilie. "Wir dürfen keine Anreize setzen, dass die Schlepperfunktion sozusagen zur Dauereinrichtung wird", warnte der CDU-Chef von Thüringen, Mike Mohring. Er befürchte, dass neue Provisorien letztendlich zu Dauereinrichtungen würden. Damit würde die AfD gestärkt, so Mohring. Die deutschen Rechtspopulisten nutzen das Migrationsthema als Steilvorlage in der politischen Auseinandersetzung. Man dürfe nichts zusichern, sagte der Fraktionschef der CSU in Bayern, Thomas Kreuzer. 2015/16 habe man gesehen, dass es Folgen haben könne, wenn man falsche Anreize setze, "dass sich nämlich Hunderttausende auf den Weg machen". Auch von FDP und AfD gab es Kritik.
Deshalb lud der Bundesinnenminister in Berlin kurzfristig zu einer Pressekonferenz, um "Fehlinformationen" zu korrigieren, wie Seehofer sagte. Die Bundesregierung sei "Lichtjahre von einer Änderung der Migrationspolitik" entfernt, so Seehofer. Rückblickend seien in den vergangenen 15 Monaten 225 im Mittelmeer gerettete Personen in Deutschland aufgenommen worden. Bei weiteren 340 liefen noch Sicherheitsüberprüfungen. Von einem "Öffnen der Schleusen" könne wohl nicht die Rede sein. Schließlich würden 2019 insgesamt voraussichtlich 140- bis 150.000 Migranten kommen.
Seehofer versprach, es werde keine Pull-Effekte geben. Diejenigen, die Anreize für verstärkte Fluchtbewegungen fürchteten, könnten "ihre Sorgen vergessen". "Pendelschiffe", die regelmäßig Migranten an der libyschen Küste abholen und in Italien an Land bringen, dürfe es nicht geben. Seehofer kündigte Gespräche mit NGOs an, die Seenotrettung betreiben und sprach sich gegen eine "direkte oder indirekte Unterstützung der Schleuser" aus.
Wie groß wird die "Koalition der Willigen"?
Berlin rechnet mit rund einem Dutzend freiwilliger Staaten, die bei einer festen Verteilquote mitmachen. Dass andere EU-Länder das ablehnen, wird inzwischen als weniger tragisch bewertet. Er unterstütze das Konzept der "flexiblen Solidarität", so Seehofer. Länder, die sich nicht beteiligen wollten, könnten mit Personal, Polizei und Finanzen ihren Beitrag leisten. Zu warten, bis sich alle 27 EU-Staaten einig sind, beschrieb Seehofer als nicht zielführend. Dann werde es nie eine Lösung geben.
Wie hoch die deutsche Quote ausfallen könnte, wird wohl erst im Oktober feststehen. Der EU-Innenministerrat soll sich am 8. Oktober mit dem Regelwerk befassen. Erst wenn klar sei, wie viele Länder mitmachten, könne er auch Auskunft über die Höhe der deutschen Quote geben, so Seehofer. Diese hänge auch von der Anzahl der beteiligten ab. Würden alle mitmachen, läge die Quote wohl bei 22 Prozent.
Bis Ende August kamen 68.000 Migranten über das Mittelmeer nach Europa, die meisten landeten in Spanien. Die Zahlen sind vergleichsweise moderat. Das liegt auch daran, dass es für alle drei Mittelmeerrouten inzwischen bilaterale Abkommen gibt. Im Westen zwischen Spanien und Marokko, in der Mitte zwischen Italien und Libyen, im Osten zwischen der EU und der Türkei. Doch gerade in Griechenland kommen derzeit wieder sehr viel mehr Menschen an, die Schutz in der EU suchen. Da gehe es um ganz andere Dimensionen und Herausforderungen, betonte Seehofer.