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Flüchtlingshilfe: Sechs Milliarden reichen nicht

Sabine Kinkartz, Berlin10. September 2015

Der Deutsche Kinderschutzbund kritisiert das Krisenmanagement der Bundesregierung als völlig unzureichend und unterfinanziert. Gefordert wird ein nationaler Integrationsplan.

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Deutschland Flüchtlinge in München
Bild: Reuters/M. Rehle

Eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge der Arbeiterwohlfahrt, eine sogenannte "Willkommensklasse" für Flüchtlingskinder – Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte es an diesem Donnerstag ganz genau wissen und sich vor Ort ein Bild davon machen, wie Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen und integriert werden.

Für Kinder, die sechs Jahre oder älter sind, besteht in Deutschland Schulpflicht. Für Flüchtlingskinder, die kein Deutsch sprechen, ist das nicht so einfach. Jeweils zwölf von ihnen werden daher außerhalb des schulischen Regelbetriebs zunächst in Willkommensklassen betreut, von denen es allein in Berlin bereits knapp 500 gibt. Dafür werden händeringend Lehrer gesucht, die sich nicht nur damit auskennen, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, sondern auch die Fähigkeit haben, mit zum Teil traumatisierten Kindern umzugehen. Eine "riesige Herausforderung", wie die Bundeskanzlerin nach ihrem Besuch in der Ferdinand-Freiligrath-Schule im Berliner Stadtteil Kreuzberg einräumte.

Zwei von drei Flüchtlingen sind Kinder

Gerade die jüngsten unter den Flüchtlingen brauchen sehr schnell umfassende Hilfe. Und es werden immer mehr. Im ersten Halbjahr 2015 war gut ein Drittel der Menschen, die nach Deutschland flüchteten, minderjährig, also Kinder im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention. Der deutsche Kinderschutzbund geht davon aus, dass es im Juli bereits 40 Prozent waren und inzwischen sogar zwei Drittel jünger als 18 Jahre alt sind. "Die jüngsten Zahlen sagen, dass 60 Prozent der Flüchtlinge, die zu uns kommen, Kinder sind", so Heinz Hilgers, der Präsident des Kinderschutzbundes. "Da müssen wir uns drauf einstellen."

Für Deutschland ist das eine zusätzliche Herausforderung. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Geburtenraten kontinuierlich gesunken, inzwischen ist nur noch ein Siebtel der Bevölkerung minderjährig. Die Politik hat darauf reagiert, indem sie - abgesehen von Ballungsgebieten - Kindergärten, Schulen und Jugendclubs geschlossen hat. Weitere Schließungen müssten unbedingt verschoben werden, fordert Hilgers und plädiert für eine neue, gemeindescharfe Prognose zur demografischen Entwicklung in Deutschland. Dann könnte die Infrastruktur wirklich bedarfsgerecht geplant werden. "Ich denke, da könnten jetzt viele Fehlentscheidungen passieren, wenn so viele junge Menschen zu uns kommen."

Integration kostet

Mit Verweis auf andere Länder geht der Kinderschutzbund davon aus, dass etwas mehr als die Hälfte der Flüchtlinge dauerhaft nach Deutschland einwandern werden. Eine Zuwanderung, die Hilgers als Chance für das überalterte Deutschland begreift. Allerdings nur, wenn die Integration schnell gelingt. Deutschland sei ökonomisch in der Lage, die dafür nötige Infrastruktur kurzfristig zu schaffen. "Nach unserer Einschätzung muss das der Bund finanzieren, denn es kann nicht von der Finanzkraft der Länder und Kommunen abhängen, ob das richtig gemacht wird."

Heinz Hilgers Porträt
Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen KinderschutzbundesBild: picture-alliance

Das wird allerdings einiges kosten. Sechs Milliarden Euro hat die Bundesregierung im Bundeshaushalt 2016 für die akute Flüchtlingshilfe eingeplant. Was Länder und Kommunen bereits als nicht ausreichend bezeichnen, wird vom Kinderschutzbund noch deutlicher kritisiert. "Die Bundesregierung hat ein Konzept vorgelegt, das in einem mangelhaften Krisenmanagement stecken bleibt und völlig unzureichend und unterfinanziert ist", so Hilgers. "Mit einer nachhaltigen Integrationspolitik haben die sechs Milliarden nichts zu tun, dahin dringen die erst gar nicht vor."

Flüchtlingskrise Deutschland Flüchtlinge am Bahnhof in München
Ein Flüchtlingskind freut sich über geschenkte StofftiereBild: picture-alliance/dpa/N. Armer

Nationaler Aktionsplan gefordert

Die Politik müsse jetzt sehr schnell zusammen mit Ländern und Kommunen einen nationalen Aktionsplan aufstellen. "Aus der Willkommenskultur muss eine nachhaltige Integrationspolitik werden." Kita- und Schulplätze müssten geschaffen und dafür neues Personal ausgebildet werden. Fachkräfte, die den Kindern aus anderen Ländern die deutsche Sprache beibringen. Für deutsch als Fremdsprache sei eine andere Methodik erforderlich. "Das muss man lernen", sagt Hilgers.

Der Kinderschutzbund fordert zudem ein nationales Wohnungsbauförderungsprogramm von jährlich mindestens 350.000 neuen Wohnungen. Und zwar nicht nur für Migranten, sondern auch , um in den stark wachsenden Ballungsgebieten bezahlbaren Wohnraum für bereits in Deutschland lebende Familien, Studenten und Auszubildende zu schaffen. "Wir haben jahrzehntelang sozialen Wohnungsbau in Deutschland versäumt und wenn wir das jetzt nicht mit Vollgas nachholen, werden wir die Konflikte in die Gesellschaft tragen", warnt Hilgers. "Die Menschen werden sagen, für die Migranten werden jetzt Wohnungen gebaut, nur nicht für uns."

Minderjährig und allein unterwegs

Ein besonderes Augenmerk legt der Kinderschutzbund auch auf die vielen minderjährigen Flüchtlinge, die sich ohne ihre Eltern oder andere Verwandte nach Deutschland durchschlagen. 2011 waren es 2000, im vergangenen Jahr 10.000 und in diesem Jahr könnten es geschätzte 20.000 junge Menschen sein. In der Regel werden sie nach kurzer Zeit in Gruppen in Kinderheimen untergebracht. "Das ist teilweise ein Drama", urteilt Hilgers, dessen Sohn in einem Kinderheim arbeitet und ihm regelmäßig von den Problemen vor Ort berichtet.

Die Flüchtlingskinder würden in den Heimen auf "in Deutschland aufgewachsene, sehr verhaltensoriginelle Kinder" treffen. "Die passen nicht zusammen, da gibt es kein gemeinsames didaktisches Konzept und man wird den Flüchtlingskindern, deren Traumata behandelt werden müssen, die aber auch ehrgeizig sind, nicht gerecht." Den deutschen Kindern auch nicht – schiebt der Präsident des Kinderschutzbundes noch nach.

Hilgers fordert die Einrichtung sogenannter Kompetenzzentren für die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Diese müssten fachlich entsprechend ausgestattet und vom Bund finanziert werden. Stattdessen werden Flüchtlingskinder, die alleine unterwegs sind, inzwischen aber auf das gesamte Bundesgebiet verteilt. Der Kinderschutzbund hält das für einen Fehler. In vielen Kinderheimen in ländlichen Gebieten habe man keinerlei Erfahrung mit traumatisierten, jungen Flüchtlingen.

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