Schuld ohne Sühne: Getötet, weil sie Juden versteckten
12. Februar 2021Es ist der 24. März 1944. In Markowa, einem kleinen Dorf im Karpatenvorland, dämmert es. Ein Gendarm klopft an die Tür von Teofil Kielar. "Wir haben Juden erschossen. Bei den Ulmas", sagt er. Der Dorfvorsteher soll Männer zusammenrufen, um Gräber auszuheben. Kielar eilt zum Haus von Józef Ulma. Unterwegs hört er noch einen Schuss.
Auf dem Hof sieht er ein Kind auf dem Boden liegen. Ein Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Sie bewegt noch ihre rechte Hand. Direkt neben ihr liegen die leblosen Körper der Eltern, der hochschwangeren Wiktoria und Józef, sowie der fünf Geschwister, darunter die Schülerin Stasia. Und ein Stück weiter Saul Goldman, einer der Juden, die die Ulmas versteckt hatten.
Neben den Toten steht der deutsche Oberleutnant der Polizei Eilert Dieken. "Ich ging zu ihm und fragte: 'Warum habt ihr die Kinder erschossen?' Worauf er mir antwortete: 'Damit die Gemeinde kein Problem mit ihnen hat'", berichtet Dorfvorsteher Kielar im März 1958.
Die Spur
Sehr geehrte Familie Ulma! (...) Ich bin die Tochter von Eilert Dieken, der (…) verstorben ist. Mir ist bekannt aufgrund des Briefwechsels, dass er im Krieg in Łańcut seinen Dienst verrichtet hat. Zu meiner Freude wird mir bekannt, dass er aufgrund seiner Handlungen den Menschen Gutes getan hat. Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet! (...)
Der Brief der ältesten Tochter von Eilert Dieken stammt vom 18. Februar 2013. Für Mateusz Szpytma ist er eine wichtige Spur. Der polnische Historiker versucht seit Jahren herauszufinden, was mit den Tätern von Markowa passiert ist.
Auf Eilert Dieken stößt Szpytma zufällig. Im Internet findet er eine Geschichte der Polizei der ostfriesischen Kleinstadt Esens, in der ein Inspektor dieses Namens erwähnt wird. In einem Brief an die dortige Polizeistation schreibt Szpytma, dass er ein Museum in Markowa gegründet hat und um Informationen über den ehemaligen Gendarmen bittet.
Nach einiger Zeit kommt die Antwort: Nach dem Krieg arbeitete Eilert Dieken auf dem Polizeiposten in Esens. Das zeigen auch beigefügte Fotos. Anderthalb Jahre später kommt der Brief von der Tochter. Szpytma vereinbart ein Treffen.
Terror-Polizisten
Im Zweiten Weltkrieg werden in die vom Dritten Reich besetzten Gebiete nicht nur Wehrmacht und SS geschickt, sondern auch Polizei. Eilert Dieken dient ab 1941 im Städtchen Landshut (Łańcut) im Karpatenvorland. Er leitet den dortigen Gendarmerieposten.
Dazu gehörte, sich um die Einhaltung der Gesetze zu kümmern, darunter die Verordnung über die Aufenthaltsbeschränkung im Generalgouvernement. Ab Oktober 1941 droht dort nicht nur Juden, die ihre Ghettos verlassen, der Tod, sondern auch Menschen, die sie verstecken. Wie den Ulmas, die acht Juden aufgenommen haben.
Waren die Ulmas "zu mutig"?
"Stasia war ein kluges und ruhiges Mädchen, eine sehr gute Schülerin", erinnert sich Roman Kluz, der Neffe von Wiktoria Ulma. "Auch Onkel Józef war ein begabter Mann mit vielen Ideen. Er züchtete Seidenraupen, pflanzte Maulbeerbäume, baute sich einen Fotoapparat und machte damit eine Menge Fotos."
"Die Ulmas waren eine ruhige Familie", sagt Eugeniusz Szylar. Sein Vater Franciszek war Zeuge ihrer Ermordung. "Vielleicht waren sie zu mutig?", mutmaßt er. Auch Szylars Familie hat damals Juden versteckt - aber von denen durfte keiner tagsüber das Haus verlassen. Bei den Ulmas dagegen halfen die Juden bei der Feldarbeit.
Mord auf Diekens Befehl
Für Eugeniusz Szylar bleibt der Tag der Ermordung der Ulmas einer der schlimmsten des ganzen Krieges: "Ich war 12 Jahre alt und habe in der Schule erfahren, was passiert ist. Weinend ging ich nach Hause und stellte mir vor, wie die Deutschen nachts zu uns kommen und uns im Schlaf erschießen".
Nur zwei Täter werden für den Tod der achtköpfigen Familie und der acht Juden büßen: Der Gendarm der polnischen Polizei, der die Familie an die Deutschen verriet, wird von polnischen Untergrundkämpfern erschossen. Ein ehemaliger deutscher Polizist, Josef Kokot, wird 1958 von einem polnischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinen Aussagen versichert er, auf Diekens Befehl gemordet zu haben.
Ein geachteter Mann
Zu diesem Zeitpunkt lebt Eilert Dieken bereits lange in Esens. Manche Bewohner der Kleinstadt erinnern sich an den Oberleutnant der Polizei. "Sehr nett und hilfsbereit", sagt eine ältere Dame am Telefon.
"Ein ranghohes Mitglied der Polizeibehörde. Wir respektierten ihn", erinnert sich der 92-jährige Esenser Theodor Sjuts. Er war sehr beliebt, auch bei den jungen Leuten. Sjuts ist schockiert, als er erfährt, für welche Verbrechen Dieken verantwortlich ist.
Kein Problem bei der Entnazifizierung
Schockiert ist auch Klaus Wilbers, Ex-Polizist und ehemaliger Bürgermeister von Esens. Als er 1973 den Dienst aufnimmt, ist Eilert Dieken schon seit dreizehn Jahren tot. Die Kollegen in der Wache erzählen aber immer noch von dem autoritären Mann. Wilbers erinnert sich, dass unter den älteren Polizisten Broschüren die Runde machten, die eindeutig nationalsozialistisch waren.
Die deutsche Vergangenheit war in den 1950ern noch kein Thema in Polizeischulen. Eilert Dieken kam problemlos durch die Entnazifizierung. In keinem der drei Verfahren verheimlicht er seinen Dienst in Polen. Er bekam die höchste Bewertung: "Keine Bedenken". Und konnte seine Polizeikarriere fortsetzen.
Das Kuvert
Bis 2013 wissen Diekens Töchter nichts über die Verbrechen, die ihr Vater während der deutschen Besetzung Polens verübt hat. Bis der Historiker Szpytma die älteste Tochter besucht. "Ich wollte ihr nicht alles erzählen," erinnert sich der Historiker. "Ich wusste auch nicht, wie sie reagieren würde, schließlich war sie schon ein älterer Mensch. Deshalb habe ich ein Kuvert vorbereitet, mit allem, was ich bisher über ihren Vater in Polen gefunden hatte."
Die Tochter berichtet Szpytma von einem fürsorglichen und liebevollen Vater, der in den Ferien nach Hause kam und von polnischen Freunden erzählte. Die Details der Arbeit in Landshut seien geheim gewesen. Nachgefragt habe die Tochter nie. Auch den Historiker fragt sie nichts, hat kein Interesse. Er lässt ihr den Umschlag. "Sie nahm ihn, bedankte sich. Hat sie den Inhalt gelesen? Ich weiß es nicht", so Szpytma.
Die Lieblingstochter
Wir wollen es wissen und suchen 2019 nach der Tochter. Sie ist 90 und möchte nicht über die Vergangenheit reden. "Es ist zu emotional für sie", sagt ihr Sohn, der auch bei dem Treffen mit dem polnischen Historiker dabei war. "Sie spricht weiterhin in Superlativen von ihrem Vater, bekräftigt, dass er fürsorglich und gut war - und sie seine Lieblingstochter." Ihrem Sohn gab sie den Vornamen ihres Vaters: Eilert.
Der Enkel las vor einigen Jahren im Internet über das Verbrechen in Markowa und konfrontierte seine Mutter mit der Wahrheit über die Taten des Großvaters in Polen. Sie reagierte nicht - muss jedoch mit ihrer jüngeren Schwester Hannelore über das Thema gesprochen haben.
"Voller Scham"
"Mama hatte nur gute Erinnerungen an ihren Vater", schreibt Hannelores Tochter Ilona, die in den USA lebt und sich noch gut an "Opa Eilert mit der Pfeife" erinnert. Erst kurz vor ihrem Tod erzählte ihr ihre Mutter entsetzt, dass ihr Großvater für den Tod einer ganzen Familie verantwortlich sei. "Sie war sehr verstört und voller Scham", schreibt Ilona. Sie nimmt daher an, dass beide Töchter Diekens den Inhalt von Szpytmas Kuvert kannten.
Eilert Dieken hat noch mehr Verbrechen in Polen begangen - aber die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg interessierte sich erst in den 1960ern für ihn. In den 1970ern eröffnete dann die Staatsanwaltschaft Dortmund zwei Verfahren gegen den Mörder der Ulmas und andere deutsche Polizisten. Für eine Bestrafung war es zu spät: Eilert Dieken war im September 1960 gestorben.
Dieser Text ist die gekürzte Übersetzung eines Beitrags aus der Reihe "Schuld ohne Sühne", einem Projekt von DW Polnisch und der polnischen Internet-Portale "Interia" und "Wirtualna Polska". Die historischen Fotos stammen aus dem "Polnischen Museum zur Rettung der Juden während des Zweiten Weltkriegs" in Markowa.