Die zweite Karriere eines "kleinen Himmler"
6. Januar 2021"Nie verurteilt!!!" Diese Worte prangen immer wieder auf dem Grab von Wilhelm Koppe. Sie stehen auf Zetteln und Schildern, die die Mitarbeiter des Friedhofs Rüngsdorf in Bonn-Bad Godesberg regelmäßig entfernen.
Für die Grabpflege zahlen Koppes Enkelinnen, Alexandra von Rotberg und Beatrix Hofmann. Sie wissen von den Verbrechen, für die der ehemalige Höhere SS- und Polizeiführer verantwortlich ist. Schon vor zwanzig Jahren begannen sie zu recherchieren. "Es war schockierend", sagen sie der DW.
Als ihr Großvater 1975 stirbt, sind sie elf und dreizehn Jahre alt. Sie erinnern sich an ihn als autoritären, fordernden Mann, "ein bisschen ein Tyrann", der jedoch auch nett und großzügig sein konnte.
Eine steile Karriere
Vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitet der 1896 geborene Koppe als Kaufmann in Hamburg. Lange bevor Hitler an die Macht kommt, wird er Mitglied in der NSDAP, SA und SS, ab 1933 auch Abgeordneter des Reichstags.
1939 erhält Koppe eine viel wichtigere Funktion: Der "kleine Himmler", wie man die Höheren SS- und Polizeiführer im NS-Staat hinter vorgehaltener Hand nennt, wird zum Chef des Sicherheitsapparats im besetzen Polen. Er zieht mit seiner Familie nach Posen. In den kommenden Jahren verantwortet er fast jedes Verbrechen, das unter deutscher Besetzung verübt wird.
Koppe ist ehrgeizig, arbeitet viel. Seine Mitarbeiter nennen ihn "den wilden Koppe", denn fehlende Sachkenntnisse ersetzt er durch barschen Kommandoton. Der Reichsführer SS und Chef der Polizei, Heinrich Himmler, schätzt ihn für sein besonders brutales Vorgeheen bei der Vernichtung der Juden und der Zwangsumsiedlung der Polen.
Terror gegen Zivilisten
Koppe befahl viele öffentliche Hinrichtungen. Etwa am 9. Juli 1942 im Dorf Tuchorza, wo zweihundert Menschen aufgefordert wurden, einer Exekution beizuwohnen. Angeblich handelt es sich um einen Vergeltungsakt für den Tod eines deutschen Polizisten - aber die 15 verurteilten Polen hatten mit dessen Tod nichts zu tun. Auf den Todesanzeigen ist zu lesen: "Erhängen auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers, Posen", also auf Befehl von Wilhelm Koppe.
Der Sicherheitspolizei erteilt Koppe den Befehl, als Reaktion auf Attentate und Sabotageakte nicht nur die Täter zu erschießen, sondern auch sämtliche Männer ihrer "Sippe". Auf einer Sitzung der Besatzungsregierung schlägt er vor, im Falle von Widerstand nicht nur dessen Aktivisten zu exekutieren, sondern alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren in dem entsprechenden "Bandengebiet".
Attentat des Untergrunds
Ein anderes Mal will Koppe jeden Tag 50 Polen auf der Straße erschießen - ohne Gerichtsverfahren. Es ist seine Antwort auf die Aktivitäten des polnischen Untergrunds. Auch Koppe bekommt sie zu spüren, als im Juli 1944 ein Attentatsversuch auf ihn verübt wird.
Während Koppe den Sicherheitsapparat im besetzten Polen leitet, leben auch seine Frau Käthe und die gemeinsamen Kinder Ursula und Manfred in Posen. Sie führen ein gutes Leben in einer Villa, vor der sie stolz auf Fotos posieren. Ob sie wussten, was um sie herum passiert?
Das zweite Leben der Koppes
Noch vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 fangen die Koppes ein neues Leben an. Schon im April bekommt Wilhelm einen Ausweis auf Käthes Mädchennamen, Lohmann. Mit falschem Geburtsdatum und -ort. Auch der Nachname des Sohnes wird geändert. Käthe nennt bei den Behörden einen anderen Mädchennamen - Jünemann - und erklärt ihren Mann für tot. Sie wohnen bei Hannover, nur 15 Kilometer voneinander getrennt - tun aber so, als ob sie nichts verbinden würde. Koppe alias Lohmann arbeitet wieder im Handel.
Die Tarnung funktioniert. Nach ein paar Jahren fühlt sich die Familie sicher. Zusammen ziehen die Koppes nach Bonn. 1952 beginnt Wilhelm in der Schokoladenfabrik Trumpf in Aachen, acht Jahre später wird er dort Direktor. Später sagt er aus, dass kein Arbeitgeber oder Mitarbeiter über seine Nazi-Karriere Bescheid wusste. Er habe stets vermieden, als der frühere SS-Führer Koppe erkannt zu werden. Vielleicht war er deswegen so zurückhaltend gegenüber Kontakten zu den Nachbarn.
In besten Kreisen
Koppes Ehefrau Käthe dagegen prahlte mit den Adeligen in ihrem Bekanntenkreis. An die kommen sie dank Tochter Ursula: Die Sekretärin im Bundesverteidigungsministerium hat einen Freiherrn geheiratet, den Oberstleutnant der Bundeswehr Arnold Freiherr von Rotberg.
Die Eheschließung ist ein großes Ereignis: die erste Hochzeit der Bundesrepublik mit militärischem Gepränge. Später wird Koppes Vergangenheit die Karriere des Schwiegersohns beeinträchtigen: Der wird nicht so schnell zum General befördert, wie erwartet.
Es kommt nicht zum Prozess
Anfang 1960 scheint das ruhige Leben des Wilhelm Koppe alias Lohmann vorbei zu sein. Er wird enttarnt, verbringt über zwei Jahre in Untersuchungshaft - kommt dann aber frei. Eine Bank zahlt 50.000 DM Kaution. Sohn Manfred, mittlerweile Rechtsanwalt, übernimmt die Verteidigung und sammelt Beweise für die Unschuld seines Vaters.
Koppe wird der Beihilfe und der Anstiftung zum Mord angeklagt. Es geht u.a. um Tötung von 145.000 Menschen im Vernichtungslager Kulmhof sowie Unterstützung des Mordes an 1558 psychisch kranken Patienten in der Stadt Soldau. Aber es kommt nicht zum Prozess: Ärzte bescheinigen Koppe Kreislaufstörungen, erhöhten Blutdruck und Gefäßsklerose, schreiben, dass er die meiste Zeit bettlägerig sei. Im August 1966 stellt die Staatsanwaltschaft Bonn das Verfahren ein.
Lebensabend im Kreise der Familie
Während Wilhelm Koppe in Untersuchungshaft sitzt, kommt seine erste Enkelin zur Welt. Beatrix weiß nicht, wie die Familie die lange Abwesenheit des Großvaters gerechtfertigt hat. Noch Jahre später wird darüber geschwiegen. Seine Enkelinnen besuchten ihn oft in Bonn-Mehlem, wo er in einer kleinen Wohnung direkt am Rhein lebte. Sie erinnern sich, wie der Großvater im Sessel saß. Beim Gehen stützte er sich auf seinen Stock.
1975 stirbt Wilhelm Koppe im Alter von 79 Jahren. "Sympathisch", "in der Familie gemocht", sagt Bernhard von Rotberg, der ältere Halbbruder von Alexandra und Beatrix über Großvater. Als er von seinen Schwestern von dessen NS-Vergangenheit erfährt, ist Koppe längst gestorben. Die Möglichkeit, Fragen zu stellen, ist passé.
Ein polnischer Reporter
49 Fragen an den ehemaligen Höheren SS- und Polizeiführer Wilhelm Koppe hatte Krzysztof Kąkolewski. In den 1970ern arbeitet der polnische Reporter an einem Buch über Naziverbrecher, die nach dem Krieg nicht bestraft wurden. 1977 will er den Mann treffen, der "den ganzen Krieg in Polen verbracht und jeden Moment seiner Zerstörung gewidmet hat". Doch Kąkolewski kommt zu spät, Koppe ist bereits zwei Jahre tot.
Kąkolewski versucht, mit Sohn Manfred Lohmann zu reden, fragt ihn nach der Namensänderung des Vaters. Manfred lügt, sagt, er habe mit Wilhelm nichts zu tun haben wollen. Tatsächlich hatten sie nicht die beste Beziehung, waren aber auch nicht verfeindet. In den 1960ern gehörte Manfred Lohmann zu den Anwälten, die sich für eine Amnestie für Nazi-Täter einsetzen. Er wurde im selben Grab beerdigt, in dem auch sein Vater liegt.
Psychische Störungen
Alexandra und Beatrix erinnern sich gut an Onkel Manfred: Ein bekannter Jurist, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit, gutaussehend, nett, humorvoll. Er heiratete spät, die Ehe hielt nicht lange. Im Laufe der Jahre wurde Manfred "schwierig", litt unter psychischen Störungen. Er starb in einer psychiatrischen Klinik. Die Umstände sind nicht ganz klar, aber vieles deutet auf Selbstmord hin.
Manfreds Nichten erinnern sich an familiäre Situationen, die zu Gesprächen hätten führen können. Wie damals, als die Mutter ihnen einen Zeitschriftenbeitrag über eine Familienfeier der Koppe-Lohmanns zeigte. Der Titel nennt Wilhelm "den Henker aus Posen" und "einen blutigen Schlächter". "Mama hat damals sehr emotional reagiert", erinnert sich Beatrix Hofmann.
Flucht ins Vergessen?
Alexandra von Rotberg erzählt von einem Besuch bei ihrer Mutter Ursula vor etwa fünfzehn Jahren. "Ich bin abends nach Hause gekommen und sie hat vor dem Fernseher geweint. Es lief ein Film über den Holocaust. 'Es war so schrecklich', sagte sie mehrmals. Sie weinte nicht, weil es ein trauriger Film war, da war mehr dran".
Einige Jahre später wird Ursula dement. Ihre Töchter fragen sich, ob die Krankheit mit der Vergangenheit zusammenhängt. Ob es eine Flucht ins Vergessen war. Nach dem Tod der Mutter 2017 finden sie Fotos und Andenken. Sie fangen an, die Sachen zu ordnen. Und damit ihre Familiengeschichte.
Dieser Text ist die gekürzte Übersetzung eines Beitrags aus der Reihe "Schuld ohne Sühne" (dw.com/zbrodniabezkary), einem Projekt von DW Polnisch und der polnischen Internet-Portale "Interia" und "Wirtualna Polska".