Schottland zählt und zittert
18. September 2014Es riecht ein bisschen nach Kuhstall in der etwas betagten Messehalle am Flughafen von Edinburgh. Hier finden ab und zu auch Viehausstellungen statt, aber heute Nacht sitzen mehrere hundert Helfer der zentralen Wahlkommission in der Halle, um die Stimmen aus den 32 Wahlbezirken Schottlands nach einem extra eingeübten System zusammen zu tragen. In der "Highland Hall" werden auch die Wahlurnen aus der Hauptstadt Edinburgh selbst an langen Tischreihen per Hand ausgezählt. Die ganze Nacht über wurden die Ergebnisse von den zahlreichen Inseln Schottlands und aus dem bergigen Hochland in die Messehalle gemeldet.
Laut ersten Resultaten liegen die Gegner der Unabhängigkeit vorn. Nach Auszählung von 17 Stimmbezirken führten sie mit etwa 56 zu 44 Prozent der abgegebenen Stimmen. Allerdings sind erst 1,2 von rund vier Millionen Stimmen ausgewertet und die großen Stimmbezirke in den Metropolen Glasgow und Edinburgh stehen noch aus. Bei einer Wahlbeteiligung von durchschnittlich 86 Prozent konnten die Befürworter bisher lediglich zwei Stimmbezirken für sich entscheiden.
Erst in den frühen Morgenstunden werden die großen Ballungsräume und die Hauptstadt ausgezählt sein. Dann wird die Wahlleiterin Mary Pitcaithly die Ergebnisse addieren und amtlich verkünden. Zum ersten Mal dürfen auch Jugendliche im Alter von 16 und 17 abstimmen. Mary Pitcaithly hat versprochen, dass das Ergebnis zum Frühstück am Freitag vorliegen soll. "Ich sage Ihnen aber nicht, um wie viel Uhr ich normalerweise frühstücke", sagte sie augenzwinkernd am Wahltag vor Journalisten. 4,2 Millionen Schotten haben sich zum Referendum über die staatliche Unabhängigkeit angemeldet. Das sind 97 Prozent der Wahlberechtigten.
Umfragen: Ergebnis wird äußerst knapp
Die Wahllokale hatten 17 Stunden geöffnet. Den ganzen Tag über gingen Tausende Wahlhelfer der beiden Lager "Ja Schottland" und "Nein, danke" von Tür zu Tür, um die letzten unentschlossenen Wähler noch an die Urnen zu bringen. Die Umfragen der Meinungsforschungsinstitute sagen ein denkbar knappes Ergebnis voraus. Die letzte Umfrage sieht die Unionisten, die eine Eigenstaatlichkeit Schottlands ablehnen, mit 51 Prozent zu 49 Prozent in Führung. Allerdings sind aus diesen Zahlen die Unentschiedenen herausgerechnet, die am Mittwoch etwa acht Prozent der Befragten ausmachten.
"Das wird eine historische Abstimmung. Das ist uns allen klar", sagte die Wahlleiterin Mary Pitcaithly. Das ganze Land, Großbritannien und hunderte Medienvertreter aus aller Welt blicken gespannt auf die Frau in der leicht müffelnden Messehalle in Edinburgh. Irgendwann wird sie das schwarze Podium erklimmen, um live im Fernsehen die Entscheidung bekannt zu geben. Ob sie aufgeregt sei, wollte ein Reporter der BBC wissen. "Ich versuche einfach nicht darüber nachzudenken. Es wäre ja nicht menschlich, wenn ich nicht ein wenig Nerven zeigen würde. Ehrlich gesagt konzentriere ich mich wirklich darauf, den Ablauf so gut wie möglich hinzubekommen", antwortete Mary Pitcaithly. Eine Nachzählung wird es nur geben, wenn die Wahlkommission Unregelmäßigkeiten beim Ablauf feststellt. Ein knappes Ergebnis allein rechtfertigt keine erneute Auszählung. "Auch eine einzige Stimme Mehrheit ist eine Mehrheit", heißt es von der Wahlkommission.
Historische Chance oder großes Risiko?
Nach 307 Jahren in einer staatlichen Union mit England haben die Schotten die Möglichkeit, sich loszusagen oder im Vereinigten Königreich zu bleiben. Alex Salmond, der Chef der Nationalisten, hatte am Mittwochabend noch einmal eindringlich an seine Landsleute appelliert, diese einmalige Chance zu nutzen. "Tun wir es jetzt! Wenn nicht jetzt, wann dann?", so Alex Salmond, der auch Erster Minister der schottischen Regierung ist. Das "Ja"-Lager verspricht bessere Lebensbedingungen in Schottland und ein Ende der angeblichen Bevormundung durch die zentrale Regierung in London.
Das "Nein"-Lager hatte in einem im Endspurt sehr emotionalen Wahlkampf vor den Gefahren für Schottland und auch das Vereinigte Königreich gewarnt. Wirtschaftlich werde es mit dem kleinen Schottland bergab gehen. Aus Europäischer Union, NATO und der Währungsunion mit Großbritannien werde es rausfliegen, so die düsteren Prognosen. "Das wäre alles unverantwortlich. Zusammen können wir viel mehr erreichen", so Alistair Darling, schottischer Politiker der Labour-Partei und Chef der "Nein"-Kampagne in einem Interview am Mittwoch.
Schottisches Referendum fasziniert auch Touristen
Die meisten Schotten sind jetzt froh, dass die lange Streiterei um die Unabhängigkeitsfrage entschieden sein wird. Familien, Arbeitskollegen und Freunde sind nach dem langen Wahlkampf tief gespalten in der Frage. "Ich hoffe, dass von Freitag an wieder eine Art Versöhnung stattfinden kann", meinte der Student und "Nein"-Wähler Gabriel Phillips vor einem Edinburgher Wahllokal gegenüber der DW.
Spannend ist das Referendum sogar für Touristen aus Deutschland. Franziska aus Kiel ist eine Woche durch das malerische schottische Hochland und über die Inseln gereist. "Ja, überall sind ganz viele Schilder. Auf allen Feldern sieht man 'yes' oder 'no'. Auch die Leute im Pub haben immer wieder darüber geredet. Das ist schon sehr präsent", schildert die Touristin ihre Eindrücke. Die aufgeheizte politische Stimmung ist ansteckend.
Franzsika will die Wahlnacht am liebsten live verfolgen. "Ich denke, wir werden mal gucken, was so in den Pubs los ist." Viele Kneipen in den größeren Städten haben in dieser Nacht keine Sperrstunde. Die meisten Schotten müssen aber am Freitag arbeiten oder in die Schule gehen. Die deutsche Touristin - die unvoreingenommen auf Schottland schaut - hält nicht viel von den Unabhängigkeitsbemühungen der Yes-Wähler. "Das wäre ja so, als wollte Bayern aus Deutschland austreten. Schwer vorstellbar!"