Schotten stimmen über Scheidung ab
18. September 2014Nur sechs Worte ist die Frage lang, die 4,2 Millionen wahlberechtigte Schotten beantworten können. "Soll Schottland ein unabhängiger Staat werden?" Sechs Worte, die über die politische Zukunft nicht nur Schottlands, sondern auch des Rest des Vereinigten Königreichs entscheiden werden. Da sind sich alle Zeitungskommentatoren in dramatischen Worten am Wahltag einig. Keine einzige Zeitung in Schottland oder England unterstützt das Streben nach schottischer Eigenstaatlichkeit. Als Antwortmöglichkeiten sind JA und NEIN auf den Wahlzettel gedruckt. Zusätzliche Einträge wie "Freiheit" oder "Britain" machen den Wahlzettel ungültig, mahnen die Mitarbeiter im Wahllokal im Edinburgher Rathaus.
Eine ältere Dame nimmt ihre Unterlagen nickend entgegen, verschwindet für ein paar Sekunden in der Wahlkabine und wirft den Zettel dann in die blaue Urne. "Ich habe mit Ja gestimmt und bete zu Gott da oben, dass ich das Richtige getan habe", sagt Sarah Lofters vor dem Wahllokal. Drinnen sind Filmaufnahmen und Interviews verboten. Sarah Lofters will, dass Schottland nach 307 Jahren wieder ein unabhängiger Staat wird. "Ich glaube nicht, dass wir unbedingt zusammengehören. Ich will nicht, dass die Währung gewechselt wird. Ich will aber, dass wir von der Bevormundung durch London befreit werden." Das britische Pfund will auch der Chef der schottischen Nationalpartei, Alex Salmond, behalten, aber die britische Regierung, Premier David Cameron, hat das bislang abgelehnt. Das Pfund war einer der vielen Streitpunkte im zwei Jahren währenden Wahlkampf zwischen den Befürwortern der Unabhängigkeit und den Unionisten, die das Vereinigte Königreich aus England, Wales, Nordirland und Schottland erhalten wollen.
Gespaltenes Schottland muss versöhnt werden
Der Andrang am Wahllokal im Edinburgher Rathaus ist nicht besonders groß, alles läuft in ruhigen Bahnen ab. 17 Stunden lang sind die Türen geöffnet. Vor dem Eingang steht im grauen Nebelwetter ein junger Mann mit einer "Nein"-Kokarde am Pulli. Gabriel Phillips stammt aus London, studiert und wohnt aber in Edinburgh. Deshalb gilt er nach dem Wahlgesetz als Schotte und darf mit abstimmen. "Natürlich mit Nein, gegen die Unabhängigkeit", sagt der Student lächelt. Monatelang hat er ehrenamtlich Wahlkampf gemacht. Jetzt hofft er, dass die letzten Umfragen stimmen und das "Nein"-Lager einen leichten Vorsprung haben wird. "Na, ja, also heute bin ich nicht hier, um noch Leute zu überzeugen mit Nein zu stimmen. Ich bin nur hier, um dafür zu sorgen, dass Fragen beantwortet werden und dass die Wähler nicht belästigt werden von der anderen Seite. Aber hier ist es eher ruhig. Es sind nicht so viele da." Während der Wahlkampagne habe es auch Übergriffe beider Seiten auf die Anhänger der jeweils anderen Seite gegeben, erzählt Gabriel Phillips.
Von Freitag an müsse man sich wieder aussöhnen, egal wie das Referendum ausgehe. "Als wir mit der Kampagne angefangen haben, da gab es zwischen den Lagern noch eine Art Verbundenheit, man konnte auch mal gemeinsam lachen. Unglücklicherweise ist das Referendum für viele Leute eine sehr emotionale Angelegenheit. Das Ergebnis war, dass beide Seiten sich gegenseitig fertiggemacht haben. Schottland ist also ein wenig gespalten. Ich hoffe, aber dass wir das nach dem Referendum wieder überwinden können." Viele Wirtshäuser in Edinburgh haben die ganze Nacht geöffnet, denn mit dem Ergebnis der Auszählung wird erst am frühen Morgen gerechnet. Viele Medien hatten spekuliert, dass feiernde und betrunkene Anhänger der politischen Lager aufeinander losgehen könnten. Doch die Polizeigewerkschaft wiegelte in einer Stellungnahme ab. "Das wird nicht schlimmer, als bei einem lokalen Fußballspiel", so ein Sprecher der Polizei in der "Scottish Daily Mail".
Wenn "Ja" gewinnt, muss jahrelang verhandelt werden
Argumente seien jetzt lange genug ausgetauscht worden, findet Thomas Nibble kurz nach der Stimmabgabe am Wahllokal. Endlich werde abgestimmt. Er habe natürlich Ja angekreuzt. "Ich habe für Unabhängigkeit gestimmt, weil ich die Nuklearwaffen loswerden will. Und es geht auch um den nationalen Gesundheitsdienst. Das Gesundheitswesen wird in England privatisiert. Ich möchte aber, dass das hier in öffentlicher Hand bleibt", sagt der kaufmännische Angestellte. Nationale Gefühle spielen für ihn bei dem Referendum keine große Rolle, es gehe um tagtägliche politische Fragen.
Der Erste Minister Schottlands, Regierungschef Alex Salmond, hatte versprochen, ein unabhängiger Staat Schottland werde zwar Mitglied der NATO bleiben, wolle aber die Atom-U-Boote der britischen Marine nicht länger in der Nähe von Glasgow dulden. Auch darüber müsste noch lange verhandelt werden, hatte das Nein-Lager argumentiert, denn ein neuer Hafen für die U-Boote an englischen Küsten würden Milliarden Pfund verschlingen. Falls die Schotten für die Unabhängigkeit stimmen will die Regierung 18 Monate lange mit der britischen Regierung in London, mit der Europäischen Union und der NATO über die Modalitäten verhandeln. Die tatsächliche Unabhängigkeitserklärung wäre für März 2017 geplant.
"Freiheit für Wales"
Wenn Schottland Teil Großbritanniens bleibt, werde sich trotzdem einiges ändern, glaubt der Student Gabriel Phillips. Im Wahlkampf hatten die drei etablierten Parteien im britischen Parlament den Schotten in letzter Minute mehr Mitbestimmung und Selbstverwaltung in Aussicht gestellt. "Schottland wird nicht mehr so sein wie zuvor", meint Phillips. Auch andere Landesteile haben diese Botschaft sehr wohl gehört. Aus England und Wales kommen bereits Forderungen nach mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung in London. Aus Wales waren sogar Demonstranten angereist, die das "Ja"-Lager unterstützten. Sie fielen im Stadtbild auf, weil sich nicht in Blau und Weiß, den schottischen Nationalfarben, sondern in Weiß, Grün und Rot, den walisischen Farben, für Unabhängigkeit eintraten. "Nach Schottland ist Wales an der Reihe", sagte eine walisische Aktivistin der DW und schwenkte zuversichtlich ihr selbstgemaltes Plakat. "Wir wollen ein freies Wales."