Schauspieler, Rom, schwul: "Wir erzählen von uns"
27. Juni 2023Der Theatersaal ist voll. Es herrscht Totenstille. Kein Hüsteln, kein Rascheln, nicht das geringste Geräusch. Als wäre niemand anwesend.
Es ist kaum zu ertragen, was der Mann, der am Rand der Bühne in einem fahlen Lichtkegel steht, berichtet. Sein Vater wurde als Kind aus der Familie gerissen und in ein staatliches Heim gebracht. Er wurde dort geschlagen, vergewaltigt, tagelang gefesselt, eingesperrt. Immer wieder. Fast wäre ihm ein Selbstmordversuch gelungen, er war elf Jahre alt. Später, als Jugendlicher, wäre er um ein Haar zwangssterilisiert worden. Und fast hätte er sein ganzes Leben im Gefängnis zugebracht und seine spätere Frau niemals getroffen.
Und dann hätte es den Sohn nicht gegeben.
Diesen Sohn, der jetzt, an einem Abend im Frühjahr 2023, am Rand der Bühne des Gorki-Theaters in Berlin steht. Diesen Menschen, der nach Auffassung der Behörden nur ein weiterer "Zigeunerbastard" war und der niemals hätte geboren werden dürfen.
Aber es gibt ihn, dank dieser Kette unfassbarer Zufälle. Ihn, Lindy Larsson, 48: Rom aus Schweden, schwul, Sänger und Schauspielstar in seiner Heimat und am Berliner Gorki-Theater. Und es gibt seine bedrückende, aber vor allem berührende Geschichte - die Geschichte eines Jungen, der ganz unten und ganz am Rand stand und der nun als Erwachsener sein Heimatland verändert.
Schwedens furchtbarer Konsens
Lindy Larsson erzählt seine Geschichte in dem Theaterstück "Tschandala": In einer multimedialen Performance, die auf erschütternde Weise den Mythos eines menschenfreundlichen, progressiven Schwedens entlarvt. Er erzählt mit persönlichen Erinnerungen und Gedanken, mit Zitaten aus offiziellen Dokumenten und Prosatexten, mit Liedern und schauspielerischen Passagen. Erschütternd vor allem deshalb, weil es in Schweden bis weit in die 1970er Jahre einen Konsens gab, von links bis rechts, von Nobelpreisträgern bis zu Arbeitern: Roma schaden Schweden, sie sind genetisch minderwertig. Sie müssen deshalb sterilisiert oder mindestens aus dem Land vertrieben werden.
Benannt ist Lindy Larssons Stück "Tschandala" nach dem Titel einer Erzählung des schwedischen Literaturklassikers August Strindberg. Tschandala leitet sich ab von einem verächtlichen indischen Wort für niederklassige Menschen. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche benutzte es in seinen rassenideologischen Schriften; bei ihm steht es als Synonym für minderwertiges Leben und als Gegensatz zu Ariern.
Strindberg, ein begeisterter Nietzsche-Rezipient, machte daraus eine Erzählung. Sie handelt von einem "Tattar", einem "umherfahrenden Zigeuner", wie Roma in Schweden früher abfällig genannt wurden. Ihm dichtet Strindberg alles erdenklich Schlechte an, deshalb muss er sterben. Der Mörder ist ein Lehrer, der sich selbst als höherstehend sieht und den Mord als edle Mission zur Erschaffung einer reinen arischen Rasse begreift. Es ist eine schockierende Erzählung voller Gewalt- und perverser Sexfantasien, in der Strindberg kein einziges Klischee über Roma auslässt. Eine Erzählung, die sich streckenweise auch liest wie ein Manifest des Völkermords an Roma und Sinti.
Ständige Angst vor Behörden
Lindy Larsson ist damit groß geworden, unerwünscht und fremd zu sein in der eigenen Heimat. Er gehört zu einer Roma-Gruppe, die man in Schweden Resandefolket, Fahrendes Volk, nennt. Er wuchs in Lessebo auf, einem kleinen Ort in Südostschweden, in der "Astrid-Lindgren-Gegend Schwedens", wie er ironisch sagt. Seine Eltern verdienten Geld mit Gelegenheitsarbeiten, die Familie war sehr arm. "Aber wir waren reich in anderer Hinsicht", erzählt Lindy Larsson. "Unser Familienzusammenhalt war sehr stark und meine Mutter war eine sehr stolze Romni. Das hat sie an uns weitergegeben. Doch nach außen hin sprachen wir nicht darüber, dass wir Roma sind."
Als Kind habe ihn die ständige Angst begleitet, vom schwedischen Jugendamt aus der Familie gerissen zu werden, so wie es sein Vater und viele andere Verwandte in ihrer Kindheit erlebt hatten. "Wenn wir ein Polizeiauto sahen, schrien wir Kinder uns gegenseitig zu: 'Abhauen! Verstecken!'. Ich wurde auch schlimm gemobbt in der Schule. Ich war klein, dünn, extrem schüchtern, mädchenhaft und eben der 'Zigeunerjunge'. Das perfekte Mobbing-Objekt. Ich lebte deshalb in meiner eigenen Fantasiewelt. Sie war voller Feen, Superhelden und Meerjungfrauen. Es war meine Überlebenstechnik."
"Frei und mutig, so wollte ich sein"
Lindy Larsson entdeckte früh, dass er gut singen konnte, und träumte davon, Schauspieler zu werden. Den Traum von einer großen öffentlichen Karriere verband er nicht damit. "Ich wollte Schauspieler werden, um das Gegenteil von mir zu sein. Das Gegenteil von schüchtern und ängstlich. Ich dachte, Schauspieler seien frei, mutig und trauten sich, zu sprechen. So wollte ich sein."
Materiell unterstützen konnte ihn seine Familie nicht, seine Lehrer glaubten nicht an ihn. Dennoch schaffte es Lindy Larsson, an verschiedenen Kunstakademien und Universitäten in Schweden aufgenommen zu werden, Schauspiel, Tanz und Gesang zu studieren - und schließlich professioneller Schauspieler zu werden. Seine ersten Rollen hatte er ab Mitte der 1990er Jahre. Bald nicht mehr nur an Theatern, sondern auch in Filmen, Opern und Revuen. Schnell wurden die wichtigsten Theater Schwedens auf sein großes Talent aufmerksam, boten ihm Rollen an, in Medien erschienen lobende Rezensionen über ihn, er erhielt Preise.
Der Anruf, der alles veränderte
Darüber, über Karriere und Auszeichnungen, spricht Lindy Larsson nur wenig. Dafür umso mehr über seinen Lebensweg. Über den Jungen, der nirgends richtig hineinpasste, über den Menschen, der sich nicht mehr verstecken wollte. Seine Eltern und seine Geschwister, sagt er, hätten kein Problem gehabt, als er ihnen eröffnete, dass er schwul sei. Andere im weiteren Familienumfeld schon, vor allem, als er es öffentlich sagte.
Noch dramatischer sei sein Coming-Out als Rom gewesen, erzählt er. "Das Schwulsein betraf nur mich, aber das Bekenntnis als Rom betraf indirekt auch meine Verwandten, und viele von ihnen wollten nicht, dass ich das öffentlich mache. Manche waren sehr verbittert darüber und brachen den Kontakt zu mir ab. Und deshalb hatte ich mich irgendwann sogar entschlossen, öffentlich nicht mehr darüber zu sprechen. Bis ein Anruf vom Gorki-Theater kam."
Es war im Jahr 2017. Das Gorki-Theater lud ihn ein, in "Roma Army" mitzuspielen, einem Stück, in dem die Protagonisten von ihren Lebenserfahrungen als Roma berichten, von Rassismus und Ausgrenzung, aber auch vom Anderssein und von der Emanzipation in der eigenen Gemeinschaft. Ein Stück über individuelle und kollektive Selbstfindung und Selbstermächtigung.
Identitätsprojekt
Lindy Larsson nahm die Einladung an. "Bis dahin bedeutete für mich, Rom zu sein, einzig und allein meine Familie und meine Sprache", sagt er. "Es war revolutionär für mich, Künstler und Aktivisten aus der Roma-Gemeinschaft zu treffen. Durch die Arbeit am Gorki-Theater war ich gezwungen, über mich zu schreiben und zu erzählen. Das hat mein Leben völlig verändert."
Lindy Larsson nennt die Arbeit an Roma Army ein "Identitätsprojekt". Es war für ihn der Beginn einer langen und intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und damit, was Schweden für Roma bedeutete. Im Laufe dieses Prozesses entstand die Idee zu dem Stück Tschandala, das er zusammen mit seinem Ehemann Stefan Forss schrieb. "Es ist der Versuch, tief hinunter in meine Familiengeschichte zu gehen, aber auch in die dunkle und versteckte schwedische Geschichte", sagt Lindy Larsson. "Sichtbar zu machen, wie sehr wir als Abschaum und Müll behandelt wurden und wie lange unsere Geschichte der Diskriminierung zurückreicht."
Das Stück beginnt sarkastisch. Immer wieder spielt Lindy Larssons Bon-Bon-Band scheinbar lustige Lieder. Doch das Lachen bleibt einem schnell im Hals stecken und weicht einer entsetzlichen Beklemmung. Wenn Lindy Larsson zitiert, wie Roma in Schweden von Rassebiologen kollektiv für debil erklärt wurden. Wenn er den furchtbaren Antiziganismus der Nobelpreisträgerinnen Selma Lagerlöf und Alva Myrdal beschreibt. Wenn er den Rassenwahn aus Strindbergs Tschandala vorträgt. Wenn er schließlich die Geschichte seines Vaters erzählt.
"Es war eine große Reise"
In Schweden bekam Tschandala im vergangenen Jahr den Kritikerpreis, die wohl bedeutendste Theater-Auszeichnung des Landes. Viele Prominente sahen das Stück und waren, wie Lindy Larsson erzählt, sehr bewegt. Am meisten freut ihn jedoch, dass viele Roma in seine Aufführungen kamen und es nun, anders als früher, begrüßten, dass er ihrer Geschichte in Schweden Gehör verschaffte. "So wie es einst in den USA eine Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen gab", sagt Lindy Larsson, "gibt es nun mit vielen Jahrzehnten Verspätung auch bei uns in Schweden den Beginn einer zivilen Bewegung, deren Aktivisten sagen, wir sind stolz, Roma zu sein."
Lindy Larsson und sein Ehemann Stefan sitzen in ihrer kleinen Berliner Hinterhofwohnung. Auf dem Tisch liegt eine Ausgabe von Strindbergs verstörender Erzählung "Tschandala". Immer wieder ist im Gespräch zu spüren, wie fassungslos die beiden sind, wenn sie über die lange Geschichte der Diskriminierung der Roma in Schweden sprechen. Irgendwann sagt Lindy Larsson über sein eigenes Theaterstück: "Es war eine große Reise. Und vielleicht das wichtigste, was ich bisher in meinem Leben gemacht habe."
Er hält einen Augenblick inne. Dann sagt er: "Aber letztlich möchte ich nicht mehr auf diesen ganzen rassistischen Irrsinn schauen. Mit ist wichtig, mich auf uns Roma, auf unsere Geschichte zu konzentrieren. Ich tue etwas für unsere Sichtbarkeit und unsere Ermutigung. Es gibt uns. Und wir erzählen von uns."