Schützt Cannabis vor dem Coronavirus?
8. Mai 2020Bei der Suche nach einem Impfstoff oder einem Medikament gegen das neue Coronavirus SARS-CoV-2 verfolgen Forscher derzeit sowohl traditionelle als auch weniger traditionelle Wege.
Sie haben sich mit bereits existierenden Medikamentenkandidaten befasst, wie etwa Remdesivir. Das Mittel war ursprünglich zur Behandlung von Ebola entwickelt worden. Und in Deutschland laufen die ersten klinischen Studien für einen Coronavirus-Impfstoff mit einem Kandidaten, der für die Krebsimmunologie entwickelt wurde.
Eine französische Studie deutet darauf hin, dass Nikotin - das typischerweise als Genussmittel beim oft tödlich endenden Zeitvertreib des Rauchens inhaliert wird - vor dem neuartigen Coronavirus schützen könnte.
Und jetzt kommt aus Kanada die Meldung, dass bestimmte Wirkstoffe in der psychoaktiven Droge Cannabis auch den Schutz von Zellen gegen das Coronavirus erhöhen könnten. Falls die Studie verifiziert werden sollte, könnte Cannabis demnach auf ähnliche Weise wie Nikotin wirken. Die Studie ist allerdings noch nicht peer-reviewed, also noch nicht von anderen Forschern des Fachgebiets begutachtet worden. Dieser Prozess dient im Wissenschaftsbetrieb zur Qualitätssicherung.
"Die Ergebnisse zu COVID stammen aus unseren Studien zu Arthritis, Morbus Crohn, Krebs und anderen", sagt Dr. Igor Kovalchuck, Professor für Biowissenschaften an der Universität Lethbridge, in einer E-Mail an die Deutsche Welle.
Andockstellen blockieren
Wie bei der vermuteten Wirkung von Nikotin auf das Coronavirus gehen die Forscher davon aus, dass einige Cannabis-Inhaltsstoffe die Fähigkeit des Virus verringern, in die Zellen der Lunge zu gelangen, wo es sich festsetzt, vermehrt und verbreitet.
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In einem bislang nicht von Forscherkollegen geprüften Artikel ("peer review") auf preprints.org schreiben Kovalchuck und seinen Kollegen, dass ihre speziell entwickelten Cannabis-Stämme das Eindringen des Virus in den menschlichen Körper wirksam verhindern.
Das Coronavirus benötigt einen "Rezeptor", um in eine menschliche Wirtszelle einzudringen. Dieser Rezeptor ist als "Angiotensin-konvertierendes Enzym II" oder ACE2 bekannt.
ACE2 findet sich im Lungengewebe, im Mund- und Nasenschleim, in den Nieren, in den Hoden und im Magen-Darm-Trakt, schreiben sie.
Laut ihrer Theorie könnte es sein, dass Cannabioide den ACE2-Spiegel in diesen "Gateways" verändern. Der menschliche Wirt wäre damit weniger anfällig und verletzlich gegenüber dem Virus. So könnte sich grundsätzlich das Infektionsrisiko verringern.
"Wenn sich kein ACE2 im Gewebe befindet, kann das Virus nicht eindringen", erläutert der Biologieprofessor Kovalchuck.
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Homegrown reicht nicht aus
Verschiedene Mediziner preisen medizinisches Cannabis für die Behandlung einer Reihe von Erkrankungen an: Von Übelkeit bis zu Demenz. Aber medizinisches Cannabis ist nicht dasselbe wie das, was viele als Genußmittel im eigenen Garten pflanzen.
Diese eher gewöhnlichen berauschenden Sorten sind für ihren Tetrahydrocannabinol (THC)-Gehalt bekannt. Das ist der wichtigste psychoaktive Wirkstoff in der Droge.
Die in Alberta ansässigen Forscher haben sich unterdessen auf Stämme der Pflanze Cannabis sativa konzentriert, die einen hohen Gehalt an dem entzündungshemmenden Cannabinoid Cannabidiol (CBD) aufweisen - das ist neben THC eine der anderen Hauptchemikalien im Hanf.
Die Kanadischen Forscher haben über 800 neue Cannabis sativa-Varianten mit hohen CBD-Werten entwickelt und bei ihnen 13 Extrakte identifiziert, die ihrer Meinung nach die ACE2- Werte in diesen menschlichen Gateways modulieren.
"Unsere Sorten haben einen hohen CBD- oder ausgewogenen CBD/THC-Gehalt, weil man eine höhere Dosis verabreichen kann und die Menschen nicht durch die psychoaktiven Eigenschaften von THC beeinträchtigt werden", so Kovalchuck.
Wenig Geld, wenig Wissen
Dr. Igor Kovalchuck leitet zusammen mit Dr. Darryl Hudson, der an der Universität von Guelph promoviert hat, auch ein Unternehmen namens Inplanta Biotechnology. Auch an diesem kanadisches Institut wird die Verwendung von Cannabinoiden in der Medizin erforscht.
Aber die Finanzierung der Cannabinoid-Forschung sei "immer noch schwierig", so Kovalchuck. Und das sei auch in anderen Ländern der Fall.
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Einige Forscher im Vereinigten Königreich mutmaßen, dass es in der Öffentlichkeit und in der Politik falsche Vorstellungen über medizinisches Cannabis gebe. Zudem hätten Ärzte möglicherweise Angst, dass Menschen abhängig werden oder versuchen, sich selbst medikamentös zu behandeln, indem sie einfach irgendeine alte Form von Cannabis verwenden, die ihnen zugängig ist.
Deshalb sei es so wichtig, sich über die Informationen im Klaren zu sein und jede Form von Sensationslust zu vermeiden, betonen die Mediziner.
"Angesichts der sozio-politischen Volatilität des medizinischen Cannabiskonsums müssen Forscher bei der Verbreitung ihrer Ergebnisse besonders vorsichtig sein", sagt Chris Albertyn, Leiter des Forschungsportfolios am King's College London und Experte für Cannabinoide und Demenz.
Der beste Weg, dies zu erreichen, so Albertyn, ist die Einführung offener, transparenter Forschungsmethoden.
"In diesem Fall hat die aktuelle Forschung aus Kanada gerade erst einen potenziellen therapeutischen 'Wirkmechanismus' aufgedeckt, der jedoch validiert und in gut konzipierten, robusten klinischen Studien getestet werden müsste, bevor aussagekräftige klinische Schlussfolgerungen gezogen werden können", so Albertyn.
Dazu gehören die Vorregistrierung klinischer Protokolle und Analysemethoden, die Veröffentlichung in Open-Access-Zeitschriften, doppelblinde, placebokontrollierte Studien und eine strenge, unabhängige Begutachtung durch die klinische akademische Gemeinschaft, sagt Albertyn.
Das Blatt hat sich gewendet
Ohne ausreichende Finanzierung und weitere Forschung wird das nötige Wissen über Cannabinoide fehlen - unabhängig davon, ob die Forschungsergebnisse die Gesundheit der Menschen nun voranbringen oder auch nicht. "Immerhin es gibt jetzt ein umfassendes Interesse", sagte Kovalchuck in seiner E-Mail an die DW. Und er zeigt sich zuversichtlich, dass ein Umdenken einsetze.
Während Kovalchuck und seine Koautoren selber einräumen, dass selbst ihre wirksamsten Extrakte einer groß angelegten Validierung bedürfen, fügen sie hinzu, dass Cannabidiol eine "sichere Ergänzung" zur Behandlung von COVID-19 sein könnte. Eine Ergänzung, wohlgemerkt, neben anderen Behandlungsmethoden.
So könnte medizinisches Cannabis bis zu einer groß angelegten Verifizierung durchaus zu einer "einfach anzuwendenden, präventiven Behandlungen" entwickelt werden, wie etwa als Mundwasser oder Gurgelwasser im klinischen und häuslichen Gebrauch.
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Korrektur: Der Artikel wurde am 09. Mai aktualisiert, um klarer deutlich zu machen, dass die Studie noch nicht von anderen Wissenschaftlern begutachtet wurde.