Saudi-Arabiens Balanceakt im Israel-Hamas-Krieg
18. Februar 2024Der Krieg zwischen Israel und der Hamas beeinflusst zunehmend die Außen- und Innenpolitik Saudi-Arabiens. "Die Situation ist für Saudi-Arabien zu einem heiklen Balanceakt geworden", sagt Sebastian Sons zur Deutschen Welle. Sons ist Wissenschaftler bei der deutschen Denkfabrik CARPO, die auf den Nahen Osten spezialisiert ist.
Der aktuelle Krieg biete Saudi-Arabien einerseits die Möglichkeit, "sich wieder stärker als Vertreter der palästinensischen Sache" zu präsentieren. Nach Sons Einschätzung war Saudi-Arabien in dieser Hinsicht lange Jahre eher inaktiv.
Annäherung zu Israel unterbrochen
Auf der anderen Seite versuche Saudi-Arabien, seine Beziehungen mit Israel zu normalisieren. Monatelang vertraten beide Länder die Auffassung, dass die Annäherung ihnen politische und wirtschaftliche Vorteile bietet - und gleichzeitig die Region stabilisiert. Zwar wurden die Verhandlungen nicht abgebrochen, aber sie gerieten ins Stocken, nachdem die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hatte.
Die Hamas wird von Deutschland, der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und einigen arabischen Staaten als terroristische Organisation eingestuft. Bei den Angriffen der Hamas wurden nach israelischen Angaben etwa 1200 Menschen getötet, hauptsächlich Zivilisten. Israels Vergeltungsmaßnahmen sollen nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen rund 29.000 Todesopfer gefordert haben.
Dass "trotz der astronomischen Zahl der Todesopfer in Gaza" die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien immer noch als machbar gesehen wird, ist für Sami Hamdi ein Zeichen. "Das lässt vermuten, dass es für Saudi-Arabien keine roten Linien gibt, die dazu führen, die Normalisierung aufzugeben", sagte der Geschäftsführer des in London ansässigen Beratungsunternehmens The International Interest.
Palästinenser für Saudi-Arabien wieder wichtiger
Aber Saudi-Arabiens Unterstützung für die Palästinenser spielt zunehmend eine Rolle dabei. Während sich Saudi-Arabien und Israel annäherten, sei die palästinensische Frage an den Rand gedrängt gewesen, sagt Peter Lintl, Nahost-Forscher am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit. Das Institut berät unter anderem die deutsche Regierung und den deutschen Bundestag. "Aber durch diesen Krieg ist es für Saudi-Arabien deutlich wichtiger geworden, die Beziehung zu Israel wieder mit einer politischen Lösung für die Palästinenser zu verknüpfen", sagt Lintl der DW.
Die USA unterstützen die Annäherung zwischen den beiden Staaten. Mehreren Berichten zufolge hatte Saudi-Arabien Anfang Februar gegenüber Washington erklärt, es werde erst dann Beziehungen zu Israel aufnehmen, wenn ein unabhängiger palästinensischer Staat anerkannt werde und die israelischen Streitkräfte den Gazastreifen verlassen.
Die neue Position Saudi-Arabiens zeigt sich auch in einer Erklärung zu Israels Plänen, eine Offensive auf Rafah zu starten. In der südlichsten Stadt des Gazastreifens leben inzwischen mehr als 1,3 Millionen vertriebene Palästinenser. Am Samstag vor einer Woche warnte Saudi-Arabien Israel vor den "sehr ernsten Auswirkungen", wenn Rafah erstürmt oder angegriffen werden sollte. Welche Auswirkungen das genau sein werden, bleibt jedoch offen.
"Die Verurteilung Israels in Bezug auf Rafah ist ein klarer Indikator dafür, dass Saudi-Arabien versucht, seine Position noch einmal zu stärken", so Sons.
Zustimmung für Hamas wächst
Inzwischen hat sich nicht nur die politische Haltung Saudi-Arabiens gewandelt - auch die Stimmung im Königreich hat sich geändert.
Die saudische Öffentlichkeit unterstützt traditionell die Palästinenser und ihr Streben nach einem unabhängigen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Nun wächst in Teilen der Gesellschaft die Unterstützung für die Hamas-Miliz. Und das, obwohl die Hamas zu den ideologischen Gegnern Saudi-Arabiens gehört - dem Iran und seiner sogenannten Achse des Widerstands. Allerdings haben sich die Beziehungen zwischen Teheran und Riad inzwischen entspannt.
Offizielle Daten über die öffentliche Meinung in Saudi-Arabien sind nicht verfügbar, da das Königreich keine regelmäßigen oder zuverlässigen Meinungsumfragen durchführt. Jedoch liegen Daten des Washington Institute vor, einer US-amerikanischen Denkfabrik mit proisraelischer Tendenz. Laut einer Umfrage stieg die positive Einstellung zur Hamas unter Saudis im November und Dezember 2023 von zehn auf 40 Prozent. "Die Hamas verkörpert den Widerstand gegen Israel und ist daher in Teilen der saudischen Bevölkerung beliebter als vor dem 7. Oktober", so Sons zur DW.
Streben nach Sicherheit und Stabilität
Politisch verfolgt Saudi-Arabien jedoch weiterhin eine nationalistische Agenda - mit Priorität auf saudischen Interessen. Dafür braucht das Königreich das Gegenteil von dem, was die vom Iran unterstützten islamistischen Gruppen wie die Hamas für die Region im Sinn haben: Sicherheit und Stabilität.
"Saudi-Arabiens oberste Priorität ist es, die existenzielle Wirtschaftskrise durch die 'Vision 2030' zu lösen", sagte Sami Hamdi vom Beratungsunternehmen The International Interest. Die "Vision 2030" ist ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umbau, ein Lieblingsprojekt des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Die geplanten Reformen sollen beispielsweise die Gesellschaft öffnen, die Rolle der Frauen stärken und die Einnahmequellen des Königreichs auf mehrere Bereiche aufteilen: weg vom Erdöl hin zu Sektoren wie Tourismus, Technologie und Finanzen.
Saudi-Arabiens zweite Priorität ist laut Hamdi die Sicherheit. "Die Saudis glauben, sie hätten immer noch eine existenzielle Sicherheitskrise, weil proiranische Milizen zu ihren Grenzen vordringen. Die Normalisierung mit den Israelis wird dazu beitragen, die Amerikaner davon zu überzeugen, einen Sicherheitspakt im Stil der NATO zu schließen, um den iranischen Einfluss zurückzudrängen", sagte Hamdi. Diese Prioritäten sind nach seiner Ansicht zu wichtig, als dass Saudi-Arabien den Palästinensern zuliebe Kompromisse machen werde.
Auch Sebastian Sons geht davon aus, dass Saudi-Arabien bald versuchen könnte, innenpolitische Ziele wie die "Vision 2030" stärker mit außenpolitischen Zielen zu verbinden. "Die Richtung könnte sein, dass es nicht mehr nur um wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen Wandel im Land geht, sondern dass die 'Vision' als Plan für Frieden und Fortschritt für die gesamte Region präsentiert wird."
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch.