"Sanktionen haben immer unerwünschte Konsequenzen"
4. April 2017Deutsche Welle: Am Dienstag und am Mittwoch findet in Brüssel eine Konferenz der EU und der Vereinten Nationen zu Syrien statt. Dabei wird der Blick nach vorne gerichtet: Es geht um Wiederaufbau, um Hilfe, und es soll auch um die Sanktionen gegen Syrien gehen. Wenn Sie die Sanktionen gegen Syrien auf einer Skala von 1 bis zehn bewerten sollten - wobei 1 sehr leicht und 10 extrem schwer bedeutet - wo würden Sie die Sanktionen gegen Syrien einordnen?
Clara Portela: Ich würde sie auf sieben einschätzen.
Gab es denn Länder, die unter härteren Sanktionen gestanden haben, als Syrien?
Auf jeden Fall. Ursprünglich meinte man mit Sanktionen umfassende Handelsembargos. Unter denen war es verboten, Güter in diese Länder zu exportieren oder Waren von ihnen zu importieren. Solche umfassenden Handelsembargos gab es zum Beispiel gegen Jugoslawien Anfang der 90er Jahre. Der Irak stand seit 1991 ungefähr zwölf Jahre lang unter einem Embargo, auch Haiti Anfang der 90er Jahre. Allerdings hat der UN-Weltsicherheitsrat festgestellt, dass die humanitären Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung viel zu stark waren. Das hat die internationale Unterstützung dieser Maßnahmen geschwächt. Deshalb hat man sich von dem Konzept des umfassenden Handelsembargos abgewandt und hat etwas Neues entwickelt: Das hat man "gezielte Sanktionen" genannt. Bei diesen gezielten Sanktionen geht es darum, nur bestimmte Sektoren, nur bestimmte Güter oder bestimmte Eliten, bestimmte Individuen zu treffen.
Allerdings werden auch gezielten Sanktionen nach und nach breiter: Dann, wenn man in einer Strategie der Steigerung immer mehr Sanktionen verhängt. Das konnte man sehr gut im Falle des Irans sehen: Ursprünglich waren die Sanktionen sehr gezielt und betrafen nur bestimmte Individuen. Aber dann fielen weitere Individuen und Firmen unter die Sanktionen. Irgendwann kam auch die Zentralbank auf die schwarze Liste. Damit waren die Sanktionen rein technisch zwar immer noch "gezielt". Aber in Wirklichkeit hatten sie sehr weitreichende Auswirkungen. Sie sind nicht mehr auf eine kleine Gruppe von Zielpersonen gerichtet, sondern treffen die ganze Gesellschaft.
Wenn wir diese Messlatte anlegen bei Syrien: Wie gezielt sind denn die Sanktionen gegen Damaskus?
Auch im Falle Syriens kann man feststellen, dass sowohl die USA als auch die EU sehr weit gegangen sind. Sie haben sehr viele unterschiedliche Sanktionsinstrumente angewandt. Nachdem man die erste Runde der Sanktionen verhängt hatte, folgte kurz darauf eine zweite Runde und dann noch eine dritte. Innerhalb von weniger als einem Jahr wurde der ganze Werkzeugkasten der EU für Sanktionen genutzt. Damit bleiben die Sanktionen formal noch "gezielt". Rein technisch gibt es noch legalen Handel mit Syrien. Aber es gibt trotzdem sehr viele Güter, die nicht mehr eingeführt werden können in die EU und es gibt sehr viele Finanzsanktionen, die verhängt wurden. Die machen es sehr schwer, Geschäfte mit syrischen Akteuren zu unternehmen.
Anfang des Jahres wurde ein Bericht bekannt, der für die UN verfasst wurde und der die Sanktionen scharf kritisiert hat: Demnach leidet vor allem die Zivilbevölkerung massiv unter den Sanktionen. Können Sie das bestätigen?
Das Leiden der Zivilbevölkerung in Syrien ist offensichtlich. Aber es ist wissenschaftlich nicht zu belegen, dass vor allem die Sanktionen daran schuld sind. Der seit mehreren Jahren anhaltende Bürgerkrieg spielt da eine viel bedeutendere Rolle. Es ist sehr schwer, die Effekte der Sanktionen von denen des Krieges zu trennen. Dabei muss man sich auch die Frage stellen: Wie viele Geschäfte oder Banküberweisungen würden unter den Bedingungen des Krieges auch ohne Sanktionen stattfinden? Wahrscheinlich sehr wenige.
In Syrien sind sehr viele Menschen wegen des Krieges auf Hilfe von außen angewiesen – wir reden hier über 13 Millionen Menschen, die meisten in Gebieten, die von der Regierung Assad kontrolliert werden. Der UN-Bericht wiederum sagt, die Hilfe für diese Menschen werde durch die Sanktionen massiv behindert. Dazu gehört die Behinderung bei Überweisungen von Geld, aber auch die Bereitstellung von medizinischen Produkten. Betroffen ist auch die Beschaffung von Ersatzteilen für die zerstörte Infrastruktur.
Es ist offensichtlich, dass Sanktionen unerwünschte Konsequenzen haben können - selbst wenn die Sanktionen sehr gezielt konzipiert werden. Der UN-Bericht weist ja auch auf einige unerwünschte Konsequenzen hin. Dazu kommt: Auch gezielte Sanktionen werden in der Implementierungsphase automatisch breiter - wegen der niedrigen Risikobereitschaft des Privatsektors. Die Implementierung liegt in der Hand der Unternehmen. Manchmal verfügt der Privatsektor aber nicht über das notwendige Wissen, was genau mit Sanktionen belegt und was noch möglich ist. Insofern meiden Firmen Geschäfte auch dann, wenn sie möglich wären. Denn sie haben Sorge, später Probleme zu bekommen. In Syrien kommt hinzu, dass die Geschäfte für internationale Akteure ohnehin nicht so attraktiv sind: Es ist ein relativ kleiner Markt, der durch den Krieg noch weniger profitabel geworden ist.
Speziell der Finanzsektor fürchtet das Risiko. Er befindet sich in einer besonders verwundbaren Position. Banken bekommen ständig Aufträge, Gelder zu überweisen. Sie haben aber keine genaue Kenntnis über die Empfänger des Geldes. Wenn da jemand Geld bekommt, der auf einer schwarzen Liste steht oder mit jemandem verbunden ist, der auf einer schwarzen Listen steht, drohen empfindliche Strafen.
Ein dritter Faktor: Die EU und die USA haben ähnliche Sanktionen verhängt, die aber nicht identisch sind. Das macht die Situation komplizierter für europäische Firmen. Sie müssen sich nicht nur an der europäischen Gesetzgebung orientieren, sondern auch an der amerikanischen. Und die ist etwas restriktiver. Selbst wenn sich die Vertreter in Brüssel Mühe geben, die Sanktionen so zu konzipieren, dass sie die Zivilbevölkerung möglichst wenig treffen, bringt das wenig, wenn nicht auch das gleiche in Washington passiert.
Wenn in dieser komplexen Situation die EU über die Zukunft in Syrien nachdenkt und die Sanktionen noch einmal auf die Tagesordnung setzt: Wie sinnvoll wäre denn die Aufhebung von Sanktionen durch die EU?
Wenn man jetzt die europäischen Sanktionen aufheben würde, würde das kaum einen Unterschied machen. Denn die meisten Unternehmen wollen die Möglichkeit haben, im amerikanischen System aktiv zu bleiben. Das geht nur, wenn sie sich auch an die US-Sanktionsgesetzgebung halten.
Grundsätzlich ist es problematisch, Sanktionen ohne Gegenleistung aufzuheben. Da geht es um die Glaubwürdigkeit des Sanktionssenders, mehr als um das Zielland oder die tatsächlichen Auswirkungen der Sanktionen. Man will das Signal vermeiden: Wenn man lange genug aushält, hebt die EU die Sanktionen von alleine auf - ohne dass sie etwas bewirkt haben.
Die Politikwissenschaftlerin Clara Portela lehrt zur Zeit an der Singapore Management University und hat wissenschaftlich zu Sanktionen der EU gearbeitet.
Die Fragen stellte Matthias von Hein.