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Politik

"Gewalt ist ein Schritt ins Nirgendwo"

Olga Kapustina
28. Oktober 2020

Wenn die Konfliktparteien im Interesse des Landes handeln wollen, sollten sie in einen Dialog treten, so SWP-Expertin Astrid Sahm. Im DW-Interview erläutert sie, wie der Ausweg aus der Krise in Belarus aussehen könnte.

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Weissrussland Minsk | Proteste | Generalstreik angekündigt
Proteste in Minsk am 25. Oktober 2020Bild: Stringer/AFP/Getty Images

Deutsche Welle: Frau Sahm, Sie verfolgen die Ereignisse in Belarus seit vielen Jahren. Hätten Sie sich solch massive und langanhaltende Proteste vorstellen können?

Astrid Sahm: Im April habe ich einen Artikel über die Ausbreitung des Coronavirus in Belarus geschrieben, mit dem Schlusswort, das Leben in Belarus könnte sich nach dem 9. August sehr verändern. Schon damals war eine tiefe Vertrauenskrise, eine Selbstorganisation der Gesellschaft und eine unzulängliche Reaktion der Behörden auf die Corona-Pandemie zu beobachten, vor allem in Bezug auf die Kommunikation mit der Bevölkerung. Diese drei Faktoren haben zu dem geführt, was wir heute sehen.

Was hat Sie mehr überrascht: die Entschlossenheit der Demonstranten oder die harte Reaktion der Behörden?

In Belarus erleben wir im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat qualitative Veränderungen - zuallererst vonseiten der Gesellschaft. In den vergangenen Jahren führte die Gesellschaft ihr eigenes Leben. Wenn der Staat die Bürger nicht zu sehr behinderte, versuchten sie auch nicht, die Entwicklung des Staates zu beeinflussen. Es gab nicht den Glauben an die eigene Kraft, etwas ändern zu können.

Aber die Gesellschaft hat sich verändert. Während der Pandemie hat sich gezeigt, dass sie in der Lage ist, sich selbst zu organisieren. Dies gab den Bürgern die Zuversicht, die Situation beeinflussen zu können. Und dies ist schon vor den Wahlen passiert. Viele Menschen haben ihre Angst überwunden und sie fürchten sich nicht mehr vor den Konsequenzen, die eine Teilnahme an Kundgebungen haben kann. Wegen der COVID-19-Pandemie waren die Grenzen geschlossen und man konnte nicht mehr durch Reisen in andere Länder Ablenkung und Erleichterung finden. Dem aktiven Teil der Bevölkerung wurde klar, dass er in einem abgeriegelten Territorium dem Staat ausgeliefert wäre. Dies war einer der Mobilisierungsfaktoren für die Proteste.

Die Behörden reagieren auf diese Proteste mit Härte. Das Innenministerium schloss sogar den Einsatz von Schusswaffen gegen die Demonstranten nicht aus.

Astrid Sahm
Astrid SahmBild: Privat

Niemand dachte, dass die einzige Reaktion des Staates auf die Massenkundgebungen darin bestehen wird, den Protest zu ersticken. Wenn man sich erinnert, wie die Behörden beispielsweise auf die Proteste gegen das sogenannte Parasiten-Gesetz reagiert haben (Personen im erwerbsfähigen Alter, die keine Sozialsteuer zahlen, sollten eine Sondersteuer zahlen - Anm. d. Red.), so legten sie damals eine gewisse Flexibilität an den Tag. Sie achteten auf die Stimmung in der Gesellschaft, versuchten Spannungen abzubauen und es nicht zu Massenprotesten kommen zu lassen. Aber seit Beginn der Pandemie ist nicht zu sehen, dass die Behörden der Gesellschaft entgegenkommen würden.

Am 10. Oktober hat sich Machthaber Alexander Lukaschenko mit inhaftierten politischen Gefangenen getroffen. Ist dies kein Entgegenkommen?

Noch ist schwer zu sagen, warum er das getan hat. Ob er etwas demonstrieren oder etwas für sich selbst herausfinden wollte. Aber es lässt sich wohl daraus schließen, dass innerhalb der Staatsmacht die Einsicht wächst, dass die Straßenproteste mit Gewalt allein nicht zu unterdrücken sind, sondern dass andere Schritte nötig sind. Aber wenn dies der einzige Schritt ist, dann ist es ein Schritt ins Nirgendwo.

In Ihrem Beitrag für die Stiftung Wissenschaft und Politik vom 16. September schreiben Sie, eine Verfassungsreform könnte eine Lösung des Konflikts einleiten. Sehen Sie das immer noch so?

Eine Verfassungsreform könnte unter bestimmten Bedingungen dazu beitragen, aus der Krise herauszukommen. Obwohl die Protestbewegung vor allem die Abhaltung freier Wahlen fordert, muss man in der heutigen Sackgasse irgendeinen Kompromiss finden. Die Protestbewegung hat keine institutionellen Instrumente, um ihre Ziele zu erreichen. Und die Behörden können die Protestbewegung nicht beseitigen, sie müssen diese anerkennen und anders reagieren. Einen Runden Tisch kann man nicht im Gefängnis abhalten, er muss in Freiheit stattfinden. Wenn die Behörden wollen, dass eine Verfassungsreform den Ausweg aus der gegenwärtigen Krise bilden soll, dann müssen andere Vorschläge gemacht werden, die dazu beitragen würden, verlorenes Vertrauen in gewissem Maße wiederherzustellen.

Wenn die Akteure von den Interessen des Landes und seiner wirtschaftlichen Entwicklung als souveräner Staat ausgehen, sollten sie einen Dialog beginnen, und eine Verfassungsreform könnte Gegenstand eines solchen Dialogs werden. Dann könnte man über die Bedingungen sprechen, unter denen sie als Ausweg aus der Krise dienen könnte.

Welche Bedingungen sind das?

Einerseits müssen die Behörden alle politischen Gefangenen freilassen. Das muss der Anfang sein, ansonsten wird ein Dialog mit der Protestbewegung nicht funktionieren. Sie müssen auch garantieren, dass die Versammlungsfreiheit respektiert wird und die Gewalt gegen friedliche Demonstranten aufhört.

Auf der anderen Seite sollte der Koordinierungsrat der Opposition der jetzigen Staatsmacht gewisse Garantien anbieten. Swetlana Tichanowskaja hat von Garantien für Lukaschenko gesprochen, aber ich denke, dass sie nicht nur für ihn, sondern auch für den gesamten Staatsapparat und dessen Familien gelten sollten. Schließlich ist wichtig, dass die Beamten Interesse an einem Dialog haben. Gleichzeitig ist es wichtig, dass alle Fälle von Gewaltanwendung dokumentiert werden. Dann kann die Frage der rechtlichen Verantwortung wieder aufgegriffen werden, sollte ein Dialog scheitern und die Garantien ihre Relevanz verlieren.

Am 12. Oktober wurde innerhalb der EU vereinbart, Lukaschenko auf die Sanktionsliste zu setzen. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Wichtig ist, dass auf dem Treffen der EU-Außenminister auch erklärt wurde, dass die Europäische Union Belarus im Falle von Reformen ein Hilfspaket anbieten wird. Dies kann einen zusätzlichen Anreiz für die Behörden in Minsk schaffen, in einen Dialog zu treten. Meiner Meinung nach sollte der Adressat nicht Lukaschenko sein, sondern der Staatsapparat als Ganzes. Sich nur auf Lukaschenko zu fixieren, wird nichts bringen. Die Pattsituation wird man nicht lösen können, wenn sich im Staatsapparat keine Kräfte finden, die die Taktik ändern, die Notwendigkeit eines Dialogs erkennen und die Angst überwinden.

Dass man Lukaschenko nun auf diese Liste setzen will, ist ebenso logisch wie der Vorschlag, den Beamten Garantien zu geben, wenn sie mit der Protestbewegung in einen Dialog treten. Andernfalls erweist sich dieser Ansatz als unfair.

Können Sie eine Prognose zur Entwicklung der Situation in Belarus abgeben?

Nein, das ist sehr schwierig. Fakt ist aber: Die Situation in Belarus wird definitiv nicht die Gleiche sein wie vor den Wahlen am 9. August.

Astrid Sahm ist Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die Politikwissenschaftlerin ist unter anderem auf Transformationsprozesse und die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Belarus spezialisiert. Sie hat selbst in Belarus gearbeitet und gelebt.

Das Gespräch führte Olga Kapustina

Adaption: Markian Ostaptschuk