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Junckers Dilemma

Barbara Wesel 11. Juli 2016

Kommissionspräsident Juncker wird für viele Probleme der EU verantwortlich gemacht - für Europamüdigkeit, Rechtpopulismus und jüngst für den Brexit. Das ist einfach - aber trifft es auch zu? Barbara Wesel aus Brüssel.

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Jean- Claude Juncker (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/S. Lecocq

In den vergangenen Wochen prasselt die Kritik auf ihn herab: Jean-Claude Juncker verpasst die Chance für einen Neustart der Europäischen Union. Ihm fehlt eine Vision für die Zukunft. Er will zu viel Europa. Er will nicht genug Europa. Merkel will ihn loswerden. Die Osteuropäer wollen ihn loswerden. Juncker steht für ein unsoziales und unsolidarisches Europa. Er lässt den Stabilitätspakt schleifen. Er ist Schuld an der Wirtschaftsschwäche im Süden. Und vor allem daran, dass viele Bürger die EU ablehnen.

Viele dieser Vorwürfe schließen sich gegenseitig aus. Auch ein Wundertäter könnte es derzeit in Europa nicht allen recht machen.

Weiter so wie bisher - oder neue Visionen?

Jean-Claude Juncker hat nach dem Brexit-Referendum zunächst emotional reagiert. Als "Mensch und Europäer" gestand er ein, dass er getroffen war. Gleichzeitig beschwor er, die EU müsse ihren politischen Weg weitergehen und Großbritannien so schnell wie möglich den Ausstieg antreten. Damit wollte er zunächst Instabilität verhindern und jede politische und wirtschaftliche "Ansteckungsgefahr" bannen. Juncker lag damit auf einer Linie mit Paris, aber überkreuz mit der vorsichtigeren Haltung in Berlin. Und letzteres hat noch nie einem Kommissionspräsidenten gutgetan.

Am Tag nach der Abstimmung forderten Parlamentspräsident Martin Schulz und die deutsche SPD in einem Strategiepapier mehr Integration, mehr gemeinsame Zuständigkeiten für Europa. Der Vorstoß wird auch Juncker zugerechnet, weil Schulz sein politischer Freund ist. Allerdings: Jede Vertragsänderung würde derzeit scheitern und das Ende der EU bedeuten. Juncker gibt also das Signal zum "Weitermachen". Das passt auch dem Rat der Regierungen, der Zeit will, um erst im September über die Folgen des Brexit-Votums nachzudenken.

Kritiker werfen Juncker deshalb vor, ihm fehle eine europäische Vision. Gleichzeitig verbitten sich die EU-Regierungen hochfliegende Ideen aus Brüssel, vor allem die Osteuropäer. Sie wollen ausdrücklich eine weniger starke EU. Der liberale Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff, räumt ein: "Juncker steckt in einem Dilemma."

Treffen von Angela Merkel und Jean-Claude Juncker in Berlin, 14.01.2016 (Foto: Reuters)
Angela Merkel entscheidet über die Zukunft von Jean-Claude JunckerBild: Reuters/F. Bensch

Mehr Effizienz - oder mehr Demokratie?

Am Rande des Nach-Brexit-Gipfeltreffens verteidigte Juncker etwas pampig seine Entscheidung, das Handelsabkommen CETA mit Kanada nur von der Kommission und dem Europaparlament ratifizieren zu lassen. In Form und Zeitpunkt war das ein politischer Fehler. Aber inhaltlich? Die Kommission soll Europa mehr Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze bescheren. Aus dieser Perspektive wäre es sinnvoll, CETA zügig umzusetzen und so den Handel auszuweiten.

Doch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Bundestagspräsident Norbert Lammert forderten empört, die nationalen Parlamente müssten abstimmen. Juncker gab sofort nach. Jetzt wird das Abkommen einen langen Weg durch die europäischen Volksvertretungen nehmen und in der vereinbarten Form wohl nie ratifiziert werden. Wirtschaftsvertreter fürchten, dass auch das TTIP-Abkommen mit den USA diesem Verfahren zum Opfer fällt. Es ist unpopulär, das auszusprechen: Aber wenn jedes Parlament über jede Vereinbarung in der EU mitbestimmt, wird diese handlungsunfähig.

Weiter sparen - oder mehr Geld ausgeben?

Seit langem wird der EU-Kommission vorgeworfen, sie gehe zu lasch mit dem Stabilitätspakt um. Denn sie lässt es Frankreich, Portugal und Spanien immer wieder durchgehen, dass die Regierungen das Drei-Prozent-Defizit-Ziel verfehlen. Juncker plädiert hier für eine Stabilitätspolitik mit "Augenmaß", solange Länder sich um Reformen und solide Haushaltsführung bemühten. Er hatte sich auch für den Verbleib Griechenlands im Euro stark gemacht.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dagegen fordert gleiches Recht und gleiche Pflichten für alle. Jetzt hat die Kommission nachgegeben und Spanien und Portugal erwarten möglicherweise Sanktionen. An die Regierung in Paris aber traut sie sich nicht ran.

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, 05.02.2015 (Foto: picture-alliance/AP)
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist frustriert über die EU-KommissionBild: picture-alliance/AP Photo/M. Sohn

Die Sparpolitik sei eine Quelle "der Frustrationen und Ängste" vieler Bürger in Europa, befand US-Präsident Barack Obama anlässlich seines Spanienbesuchs. Nicht nur US-amerikanische Ökonomen agitieren gegen die von Berlin geprägte Stabilitätspolitik. Die Mittelmeerländer fordern schon längst, mehr Schulden zu machen und damit ihre Volkswirtschaften ankurbeln.

Hier stoßen zwei ökonomische Theorien aufeinander: Müssen Staatshaushalte solide sein und unter Opfern Wettbewerbsfähigkeit herstellen? Oder sollten sie Geld ausgeben und mit Investitionen einen Boom erzeugen? Das ist letztlich eine Machtfrage, und sie wird nicht in Brüssel, sondern in den nationalen Hauptstädten entschieden. Eine Regierung spielt dabei nicht mehr mit: Die Verfechter einer Hardcore-Sparpolitik in London.

Mehr Charisma - oder lieber Langeweile?

Zum Ende seiner EU-Karriere vor knapp zwei Jahren entwickelte sich der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber zum überzeugten Europäer. Er fordert jetzt mehr "Charisma in der Politik in Europa". Ein Schelm, wer dabei grinsen muss.

Die beiden halbwegs charismatischen Europapolitiker Jean-Claude Juncker und Martin Schulz haben derzeit eine ganz schlechte Konjunktur. Möglicherweise wird sich auch hier die Bundeskanzlerin durchsetzen: Es gibt nur so viel Charisma, wie Angela Merkel erlaubt.