Rückkehr in eine zerstörte Heimat
6. August 2014Vorsichtige Schritte über knirschendes Geröll – das ist das Geräusch, das Gaza an diesem Tag prägt. Der Waffenstillstand ist erst wenige Stunden alt, aber er scheint zu halten und so haben sich die Menschen in ihre alten Viertel zurück gewagt. Sie steigen über die Schuttberge und suchen nach letzten Resten ihres früheren Lebens. Ein paar Haushaltsgegenstände, eine Matratze, eine Decke oder ein Kinderspielzeug, mehr ist nicht zu retten. Aische hat immerhin noch ein paar Töpfe in Sicherheit gebracht und eine Plastikwanne, die die Bombardierungen wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hat. Ihre Küche ist dagegen vollkommen demoliert. In der Wand steckt eine nicht explodierte israelische Rakete, etwa 1,20 Meter lang.
"Es war ein Sonntagmorgen, als die Gegend bombardiert wurde und das ganze Haus wackelte", erzählt Aische. Die Familie floh, zunächst ins Shifa-Krankenhaus und von dort in eine UNRWA-Schule. "Meine Familie hat Gott sei Dank überlebt, aber mein Onkel und zwei Cousins sind noch immer unter den Trümmern begraben."
Viel ist nicht übrig geblieben nach den Bomben der Israelis auf das Viertel Shajaiyeh in Gaza. Ganze Straßenzüge sind in Schutt und Asche gelegt. Haushoch türmen sich die Trümmer aus Beton, verbogenen Eisenträgern und Steinen. Überall liegt der Geruch von Verwesung, denn unter den zusammengebombten Häusern sind noch viele Tote. Leben kann hier niemand mehr. Die meisten Einwohner des Viertels haben in UN-Schulen weiter im Westen des Gazastreifens Zuflucht gefunden.
Schlafen im Schichtbetrieb
Hier leben sie nun schon seit drei Wochen in drangvoller Enge und ein Ende ist nicht abzusehen, denn sie haben keine Häuser mehr. Mit Decken haben sich die Familien kleine Bereiche abgetrennt, wo sie schlafen und ein bisschen Privatsphäre finden. Doch für die großen Familien mit den vielen Kindern gibt es nicht genug Platz, erzählt Raida. "Hier leben 15 Leute, in dieser kleinen Ecke. Wir schlafen in Schichten. Eine Hälfte der Familie in der Nacht und die andere Hälfte am Tag."
Ihre Zeit verbringen sie mit Warten. "Wir hören die Nachrichten und warten, wie es weitergeht", sagen Raida, ihre Schwester und ihre Cousine, drei bildschöne junge Frauen, die ihre kleineren Geschwister und ihre eigenen Kinder versorgen. "Morgens bringt die UNRWA Wasser. Dann waschen wir uns und die Kleider. Sonst gibt es nicht viel zu tun."
Auf dem Schulhof rennen Kinder umher. Sie sind freundlich und erstaunlich fröhlich. An einem fahrbaren Stand verkauft ein Händler süße Limonade in winzigen Bechern. An einer Ecke des Schulhofs stehen drei große metallene Wassertanks mit mehreren Hähnen. Da können sich die Flüchtlinge Wasser abzapfen. Daneben sind die wenigen Toiletten, vor denen sich lange Schlangen bilden. Etwa 3000 Menschen wohnen in der Schule. Eintausend sind schon gegangen. Sie suchen woanders ein neues Zuhause oder versuchen, ihre alten Häuser wieder herzurichten.
Überfordertes Gesundheitswesen
Im Shifa-Krankenhaus ist es nach dem Ende der Kämpfe ruhiger geworden. Die meisten Patienten, die hier in den letzten Wochen eingeliefert wurden, sind entweder verstorben oder auf andere Stationen verlegt worden. Auf der Intensivstation liegen derzeit noch drei Schwerstverletzte, ein kleines Mädchen und zwei junge Männer mit zahlreichen Brüchen und inneren Verletzungen, die von Explosionen stammen. Das fünfjährige Mädchen hat eine schwere Gehirnverletzung. Ihre Familie wurde vollständig ausgelöscht. Sie ist die einzige Überlebende. Unruhig bewegt sie ihre Beine, schlägt die Augen auf und schließt sie wieder. Die Ärzte wissen noch nicht, ob sie bleibende Schäden davon tragen wird.
Im Shifa-Krankenhaus arbeitet derzeit auch Dr. Ghassan Abu Sitta. Er ist aus Beirut gekommen, um die Ärzte in Gaza zu unterstützen und den Verletzten zu helfen. Er ist Plastischer Chirurg und spezialisiert auf Kriegsverletzungen. Schon im Gazakrieg von 2008/2009 war er hier und hat den Opfern der Phosphorgranaten geholfen, die Israel damals eingesetzt hatte. In diesem Krieg ist offenbar viel DIME-Munition zum Einsatz gekommen, gasförmiges Metall, das furchtbare Verletzungen verursacht und viele Amputationen nach sich zieht.
"Seit ich vor etwa zehn Tagen hierher gekommen bin, habe ich pro Tag fünf bis sechs Operationen vorgenommen", berichtet Abu-Sitta. 80 Prozent seiner Patienten werden entweder eine physische Behinderung behalten oder für den Rest ihres Lebens unter einer Deformation leiden. "Das sind Kinder, Frauen junge Männer, Amputierte, schwere Gesichtsverbrennungen, ich hatte ein achtjähriges Kind, das beide Augen verloren hat und die Hälfte seines Gesichtes."
In diesem Krieg sind besonders viele Kinder unter den Toten und unter den Verletzten, sagt Abu-Sitta. Er ist selbst Palästinenser und Vater von drei Kindern. Darum geht ihm die Lage der Kinder besonders nah, die als einzige ihrer Familien überlebt haben.
"Ein achtjähriges Kind, das sein Augenlicht verloren hat und das durch den Krieg zur Waise wurde, was soll aus dem werden? Ich habe keine Ahnung, wer sich um diese Kinder kümmern soll. Ich weiß es nicht."