"Deutschland hat sich verändert"
27. Januar 2016DW: Frau Klüger, Sie werden am Mittwoch im Deutschen Bundestag sprechen. Mitten in Berlin - der Stadt, von der aus die Nazis ihre Verbrechen, die an Ihnen und Ihrer Familie begangen wurden, planten und beauftragten. Was für ein Gefühl ist es für Sie, hier zu sein und im Bundestag zu sprechen?
Ruth Klüger: Ich sehe, dass sich so vieles verändert hat. Dass dieser Gedenktag gefeiert wird, und zwar Jahr für Jahr. Dass ein Volk aufarbeitet, was es nicht an Ehren auf Schlachtfeldern gewonnen hat, sondern was es verbrochen hat, ist schon ganz ungewöhnlich. Ich sehe neue Generationen, die sich bemühen, jetzt wieder etwas gut zu machen. Ich bewundere die Offenheit, mit der die Regierung - und wenn ich das richtig verstehe auch ein Großteil der Bevölkerung - die Flüchtlinge aufnimmt. Das ist mir, vom deutsch-jüdischen Standpunkt aus gesehen, etwas Neues. Das war, weiß Gott, vor zwei drei Generationen nicht so.
Dabei bin ich natürlich nicht so verblendet, dass ich meine, dass alle Deutschen gutwillig sind nicht-deutschen Gruppen gegenüber. Ich bin mir bewusst, dass es große Probleme gibt und große Bevölkerungsgruppen, die sich gegen eine neue Einstellung gegenüber Fremden wehren. Aber wenn ich es richtig erfasse, ist doch eine Mehrheit oder ein starker und eigenwilliger Teil der Bevölkerung dafür, dass man die Tore öffnet und Andere akzeptiert. Das ist aufregend und ich bin neugierig, das hier zu erleben. Deswegen habe ich die Einladung, hier zu sprechen, mit Freude angenommen.
Sie haben einmal dieses seltsame Gefühl beschrieben, das Sie lange Zeit erfasst hat, sobald Sie im Flugzeug nach Deutschland saßen...
Das habe ich mittlerweile nicht mehr. Aber wenn ich gefragt werde: Könnten Sie sich vorstellen, in Deutschland zu leben? Oder in Österreich - ich komm ja aus Wien - dann ist die klare Antwort: Nein. Deutschland ist für mich ein verbotenes Land, das würde ich für mein eigenes Leben nicht haben wollen. Da besteht eine Kluft zwischen dem, was ich beobachte und mit Freude sehe und dem, was ich für mein eigenes Leben haben möchte. Ich bin zu Hause in Kalifornien.
Sie waren in drei Konzentrationslagern: In Theresienstadt, in Auschwitz-Birkenau, in Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. Dabei waren Sie noch ein Kind. In Theresienstadt gerade einmal elf Jahre alt. Haben Sie damals überhaupt begriffen, was gerade passiert?
Kinder nehmen, was immer sie erleben, als etwas als Selbstverständliches. Sie können es sich nicht anders vorstellen. Auch wenn man weiß, man erlebt etwas Ungewöhnliches, dann denkt sich das Kind: Darüber werde ich später was sagen können. Das habe ich übrigens sehr oft gedacht: Ich hab was zu erzählen. Das war eine Art Überlebenshilfe. Natürlich wollte es später erst mal niemand hören, aber das steht auf einem anderen Blatt. Damals war es vor allem das Gefühl, da muss man einmal durch - und es kommt ein fabelhaft schönes Leben danach. Ich habe so wenig von irgend etwas anderem gewusst. Ich war ja sieben Jahre alt, als Hitler mit seiner Truppe in Österreich einmarschiert ist. Von da an war das Leben völlig anders. Von sieben Jahren an bis ich vierzehn war, bis 1945, das waren Hitlerjahre für mich. Ich kannte nichts anderes, es war das Gegebene.
Hat ihnen die Literatur, die Poesie, die Sie so liebten, im Lager geholfen?
Man tut ja alles Mögliche, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich habe Gedichte aufgesagt. Aber es ist ein Zufall, das Überleben in solchen Umständen. Wenn sie mit Überlebenden sprechen, merken Sie: Jeder hat seine eigenartige Geschichte des Überlebens. Wir sind in der Beziehung alle abnormal. Das Überleben war nicht das Normale, das Normale war der Tod.
Ihre Kindheitserinnerungen, mit denen Sie berühmt wurden, heißen "Weiter leben". Wie haben Sie es geschafft, nach all dem weiterzuleben?
Wenn man nicht umgebracht wird, dann lebt man weiter. Da müsste man sich schon anstrengen, um es selber zu tun.
In "Weiter leben" beschreiben Sie sich, als "eine, die nirgendwo lange tätig ist und oft auszieht aus Städten und Wohnungen… Die sich auf die Flucht begibt, nicht erst, wenn sie Gefahr wittert, sondern schon, wenn sie nervös wird." Ist das heute noch so?
Ich bin jetzt 84 Jahre alt. Das Gefühl hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verändert. Ich bin jetzt ganz gerne zu Hause, in einer hübschen Wohnung mit einer Katze. Andererseits, was ich jetzt immer wieder habe, ist dieses Gefühl: Um Gottes willen, wie haben diese alten Frauen das damals ausgehalten? Ich stelle mir vor, wie das wäre, wenn ich jetzt ins Konzentrationslager müsste. Und das ist ein verheerender Gedanke. Die Vorstellung, da mit vier anderen auf einer Pritsche zu schlafen. Wie kann man da überhaupt schlafen? Ich nehme schon Schlafmittel auf meiner bequemen Matratze. Und dass man nicht die eigene Badewanne hat, dass man nicht einmal das eigene Klosett hat. Kinder können überall schlafen oder auf ein Klosett gehen. Aber alte Frauen, die da nebeneinander in einer Latrine sitzen! Es ist so etwas Unvorstellbares für mich, wenn ich jetzt von einer feindlichen Obrigkeit aus meiner Wohnung gerissen und verschickt würde. Das geht mir so im Kopf rum in diesen Tagen.
Was bedeutet Ihnen persönlich der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, der heute der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ist?
Ich überlege immer, wo ich an diesem Tag war. Ich glaube, ich war auf der Flucht und wusste gar nicht, dass Auschwitz befreit worden ist. Und es ist ja auch nicht so, als ob da Millionen Menschen befreit worden wären. Die waren schon vergast und die anderen waren auf Todesmärschen. Übrig waren diejenigen, die in Krankenbaracken waren, also Grund hatten zu glauben, dass sie es nicht überleben. Dieser Gedenktag ist willkürlich gewählt. Aber es ist keine schlechte Wahl, weil es ein besonders zerstörerisches Lager war.
Wie haben Sie Ihre Befreiung erlebt?
Wir waren schon auf der Flucht. Wir haben uns ausgegeben als Deutsche, die vor den Russen geflohen sind. Ironischerweise, weil wir ja eigentlich zu den Russen rüber wollten. Im April 1945 sind die Amerikaner dann in Straubing in Bayern einmarschiert. Da war der Krieg vorbei. Und die sieben Jahre, die ich vorher erwähnt habe, meine Hitlerjahre, waren vorbei. Und da war große Freude. Aber in den folgenden Tagen ist das immer mehr eingesickert und zu einem ganz anderen Lebensgefühl geworden.
In diesem Jahr feiern wir 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen: Ist ein Verzeihen doch möglich?
Das Wort verzeihen mag ich überhaupt nicht. Denn was soll ich verzeihen? Ich kann nicht für andere verzeihen. Ich kann nicht verzeihen, dass mein Bruder in der Ukraine erschossen wurde und dass mein Vater - weiß Gott wo, wahrscheinlich in Litauen - umgekommen ist. Das steht mir nicht an.
Wie wichtig ist es, der Toten zu gedenken, die brutal von den Nationalsozialisten umgebracht wurden?
Beim Begräbnis meiner Mutter, die sehr alt geworden und in Los Angeles gestorben ist, da hatte ich schon das Gefühl, es ist wichtig, dass man die Toten begräbt. Der Ritus hat seine Stelle. Vorher war mir das nie ganz klar. Der Riesenverlust der Toten in meiner Familie, das war ein Verlust, als hätte ich wörtlich etwas verloren, einen Gegenstand, den ich nicht wiederfinden kann. Ein Begräbnis aber gibt einen Schlussstrich. Ich kann ein paar Worte sagen - Worte der Erinnerung, religiöse Worte. Man zieht mit einer gewissen Zufriedenheit ab und macht etwas anderes. Das gibt es nicht für die Überlebenden des Holocaust. Die Toten sind irgendwo verstreute Asche. Sie wurde nicht einmal von jemandem verstreut. Sie wurden in einen Graben gestoßen. Wenn man einmal auf einer richtigen Beerdigung war, dann merkt man, was der Unterschied ist.
Bei Gedenkstunden geht es auch um das "Nie wieder". Was möchten Sie mit Ihrer Rede im Bundestag ausdrücken?
Wichtig ist, dass dieser ungeheure Wechsel stattgefunden hat. Dass dies einmal ein sehr fanatisches Land war, nicht nur gegenüber Juden, auch sonst. Und dass es jetzt eine Macht für den Frieden geworden ist. Das verdaue ich noch.
Wie wichtig ist es, dass Zeitzeugen wie Sie - Menschen, die die Gräueltaten der Nazis selbst erlebt haben - davon berichten? Viele gibt es nicht mehr, die noch lange davon erzählen können.
Ich glaube, dass diese Sorge "Bald haben wir niemanden mehr, der davon erzählen kann" übertrieben ist und unnötig. Seit vielen Jahrhunderten lernt man aus Geschriebenem. Und das wird auch weiterhin der Fall sein. Ihr braucht uns nicht. Wenn Ihr Euch erinnern wollt, werdet Ihr Euch erinnern. Euer Wille, der der Jüngeren, spielt da eine ebenso große Rolle wie das, was wir zu sagen haben.
Ruth Klüger wurde 1931 in Wien geboren. Gemeinsam mit ihrer Mutter überlebte sie die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt. 1947 emigrierte sie in die USA und studierte in Berkeley. Als Professorin für Germanistik unterrichtete sich u.a. in Princeton, der University of California in Irvine und in Göttingen. Ihren Durchbruch als Schriftstellerin hatte sie mit ihren Kindheitserinnerungen "Weiter leben", die 1992 erschienen. Sie lebt heute in Irvine, Kalifornien.
Das Interview führte Sarah Judith Hofmann.