Russlands Verluste im Ukraine-Krieg
23. März 2022Ein Monat ist seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine vergangen. Was nach dem Willen des Kremls eine "Spezialoperation" werden sollte, die nach wenigen Tagen abgeschlossen sein sollte, hat sich mittlerweile zu einem Krieg ausgeweitet, der bereits jetzt auf beiden Seiten zu tausenden von Opfern geführt hat. Dabei ist insbesondere immer wieder zu lesen, dass die russische Armee "unerwartet hohe" Verluste zu verzeichnen habe.
Wie viele russische Soldaten der Krieg bislang tatsächlich das Leben gekostet hat, lässt sich nur sehr schwer einschätzen. Die Angaben hierzu sind äußerst widersprüchlich und lassen sich nicht unabhängig verifizieren.
Russische Quellen halten sich bedeckt
Das russische Verteidigungsministerium hat bislang nur ein einziges Mal eigene Opferzahlen herausgegeben. Am 2. März meldete es 498 getötete und rund 1600 verwundete russische Soldaten seit Kriegsbeginn. Seitdem hält Russland die Zahl der eigenen Verluste geheim.
Am Sonntagabend ließ eine Meldung der russischen staatsnahen Boulevardzeitung "Komsomolskaja Prawda" aufhorchen. Online vermeldete sie unter Berufung auf Militärkreise, es habe bislang 9861 gefallene und über 16.000 verwundete russische Soldaten gegeben. Doch nach nur wenigen Minuten wurde diese Information wieder entfernt. Es habe sich um eine von Hackern platzierte Falschmeldung gehandelt, hieß es wenig später zur Begründung. Eine archivierte Version des Artikels ist jedoch weiterhin online abrufbar.
Trotz des russischen Dementis ist davon auszugehen, dass die Zahl gefallener oder verwundeter russischer Soldaten weit höher anzusiedeln ist, als es die bisherigen offiziellen russischen Zahlen nahelegen. Vor einigen Tagen sorgte ein Bericht von Radio Liberty aus Belarus für Aufsehen, demzufolge die Leichenhäuser im Grenzgebiet zur Ukraine mit toten russischen Soldaten überfüllt sein sollen. Auf Videos waren ganze Kolonnen russischer Sanitärfahrzeuge zu sehen, die angeblich tote oder verwundete Soldaten ins belarussische Gomel brachten. Mehrere tausend getötete russische Soldaten sollen dem Bericht zufolge mittlerweile von dort aus bereits wieder nach Russland zurückgeführt worden sein. Auch die DW berichtete bereits davon, dass in belarussischen Krankenhäusern eine unerwartet hohe Anzahl verwundeter russischer Soldaten operiert werde.
Ukraine vermeldet mehrere getötete russische Generäle
Die ukrainische Onlinezeitung "The Kyiv Independent" gibt regelmäßig Schätzungen des ukrainischen Generalstabes heraus und spricht mittlerweile von über 15.000 russischen Verlusten, wobei wohl gefallene und gefangengenommene Soldaten zusammengerechnet werden.
Jedoch sind auch diese Zahlen nicht unabhängig verifizierbar. Zur Methodik der Erhebung gibt es keinerlei Angaben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die ukrainische Armee die Zahlen höher ansetzt als sie tatsächlich sind, um ihre Kampfkraft und ihre militärischen Erfolge hervorzuheben.
Ukrainischen Angaben zufolge sollen zudem bereits sechs der rund 20 am Einmarsch in die Ukraine beteiligten hochrangigen russischen Generäle getötet worden sein. Der Afghanistan-erfahrene US-General David Petraeus hält eine solch hohe Zahl für "sehr, sehr ungewöhnlich" und für ein Zeichen dafür, dass die russischen Kommunikations- und Kommandostrukturen erheblich gestört worden seien. Ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums kommentierte die Meldungen wesentlich zurückhaltender. Selbst wenn die Berichte stimmen sollten, sage das nicht unbedingt etwas über die russische Truppenführung aus.
US-Pentagon bleibt zurückhaltend
Natürlich beobachtet auch das US-Verteidigungsministerium die Situation in der Ukraine genau. Das Pentagon erstellt seine Lageberichte aufgrund nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, der Auswertung kommerzieller und militärischer Satellitenbilder sowie abgefangenen russischen Funkverkehrs.
Aktuell geht das US-Verteidigungsministerium in einer "konservativen" Schätzung von rund 7000 getöteten Russen und einer rund zwei- bis dreimal so hohen Zahl von Verwundeten aus. Insgesamt sollen rund 150.000 russische Soldaten am Einmarsch beteiligt gewesen sein. Sollten die US-amerikanischen Zahlen stimmen, wären damit bereits nach einem Monat mehr als zehn Prozent der ursprünglich eingesetzten russischen Truppen nicht mehr einsatzfähig.
Bei ihrer Berechnung der russischen Verluste stützen sich die US-Militärexperten auch auf öffentlich zugängliche Berichte. Einen der bislang transparentesten Zugänge bietet etwa die niederländische Internetplattform Oryx. Sie hat minutiös dokumentiert, wie viele russische Militärfahrzeuge bislang zerstört oder von der ukrainischen Armee erbeutet wurden; jedes einzelne dieser Fahrzeuge wird jeweils mit einem genau datierten Foto- oder Videonachweis hinterlegt.
Demzufolge habe die russische Armee binnen eines Monats mindestens 270 Panzer, 258 Infanteriefahrzeuge und 178 gepanzerte Kampffahrzeuge verloren. Da die durchschnittliche personelle Belegung dieser Fahrzeuge bekannt ist, lassen sich die Zahlen der nicht mehr kampffähigen russischen Soldaten zumindest annähernd hochrechnen.
Viel Bildmaterial und zunehmende Fakes
Dennoch sind auch diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Die Verifizierung des Bildmaterials nimmt teilweise viel Zeit in Anspruch, sodass die Betreiber des Militär-Blogs selbst bereits über einen großen Rückstau eingegangener Meldungen klagen, der noch anwachsen dürfte, je länger der Krieg dauert.
Zudem habe auch der Anteil an Fakevideos und gefälschtem Propagandamaterial seit Beginn des Krieges stetig zugenommen, was die Verifizierung zusätzlich in die Länge ziehe. Auch das erschwere die Einschätzung der realen Verluste der russischen Streitkräfte erheblich.
Nichtsdestotrotz legen auch die Zahlen der bereits verifizierten Verluste an schwerem Militärgerät nahe, dass die russischen Einbußen tatsächlich wesentlich höher zu sein scheinen als ursprünglich vom Kreml einkalkuliert. Sollte die Zahl von bislang über 7000 gefallenen russischen Soldaten auch nur annähernd stimmen, dann hätte die russische Armee bereits jetzt - nach einem Monat Krieg in der Ukraine - halb so viele getötete Soldaten zu beklagen wie die Rote Armee in ihren zehn Jahren sowjetischer Intervention in Afghanistan zwischen 1979 und 1989.