Ukraine-Krieg: Russlands Aggression begann vor zehn Jahren
24. Februar 2024Maryna Ljuschyna wollte am 24. Februar 2022 einen Schokoladen-Kochkurs geben. Sie deckte am Vorabend die Tische und freute sich auf die Kinder, die in ihr privates Jugendtheater im nordukrainischen Konotop kommen würden.
Schlafen konnte die Schauspielerin und Mutter zweier Kinder in jener Nacht schlecht. Sie hörte Lärm und dachte, es sei die Straßenbahn. "Um sieben Uhr morgens rief mich eine Freundin an und sagte: "Schalte den Fernseher ein, es ist Krieg", erinnert sich Ljuschyna, die heute in Bonn lebt.
Konotop liegt rund 80 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Vor zwei Jahren wurde die Stadt binnen Stunden von russischen Truppen eingekreist. Es gab Widerstand, doch die Kräfte waren ungleich; die ukrainische Armee zog sich zurück. Später wurde die Stadt von den ukrainischen Truppen wieder befreit.
In den ersten Tagen des Krieges flüchtete Ljuschyna zu ihrer Mutter an den Stadtrand, wo sie russischen Soldaten begegnete: "Ich frage sie: Was macht ihr hier?" Die Antwort: "Wir sind gekommen, um Präsident Selenskyj zu holen."
Ukraine als Spielball?
Als wäre die Ukraine kein unabhängiger Staat, empört sie sich. Die Besatzer hätten gedacht, dass sie willkommen geheißen würden und seien überrascht gewesen, dass dies nicht der Fall war, erzählt die Frau.
Nach drei Tagen floh Ljuschyna in die Westukraine und von dort, zusammen mit Millionen ihrer Landsleute, weiter in die EU. Ihr Mann blieb.
Heute ist sie immer noch ratlos: "Ich habe nicht erwartet, dass es einen großen Krieg geben wird. Wie kann so etwas im 21. Jahrhundert mitten in Europa passieren?"
Ljuschyna wirft dem Westen vor, die Ukraine als Spielball und Verhandlungsmasse zu sehen: "Europa schaute zu und wartete ab, ob wir getötet werden oder nicht."
Das trifft nicht auf alle Regierungen zu. USA, Großbritannien und andere lieferten bereits vor dem russischen Einmarsch Waffen an Kiew. Deutschland kam später dazu, steht heute aber oben auf der Liste der Unterstützerstaaten.
Maskierte Männer besetzten die Krim
Viele waren damals überrascht, selbst in der Ukraine. Dabei hatte der russische Angriff bereits acht Jahre zuvor mit der Annexion der Krim begonnen: Am 27. Februar 2014 besetzten bewaffnete und maskierte Männer in Uniformen ohne Hoheitszeichen Parlament und Gebietsverwaltung auf der Halbinsel. Russlands Präsident Wladimir Putin gab später zu, dass es russische Soldaten waren.
Die Ukraine war stark geschwächt. In Kiew zwangen oppositionelle Proteste den prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zur Flucht nach Russland.
Die neue prowestliche Regierung traute sich nicht, die Krim mit Waffen zu verteidigen. Der Westen empfahl Kiew Zurückhaltung - auch dann noch, als im Frühling 2014 der heiße Krieg im ostukrainischem Kohlerevier Donbas begann. Harte Sanktionen gab es nicht.
Russland setzte eigene Leute an die Spitze der prorussischen Kräfte in Donezk und Luhansk und bewaffnete sie heimlich immer mehr. Der Westen versuchte durch Verhandlungen, den Konflikt einzufrieren, die Ukraine verhängte kein Kriegsrecht. Der Krieg wurde "Antiterroreinsatz" genannt.
"Nicht unser Krieg"
Das alles führte dazu, dass für viele der Krieg weit weg schien. "Die meisten in der Ukraine haben nicht verstanden, dass es ihr Krieg ist", sagt Ljuschyna.
Für Maksym Kosub gilt das nicht. Der Dolmetscher aus Kiew erinnert sich, wie er im Juni 2014 auf einer Kundgebung vor der russischen Botschaft einen Abbruch der Beziehungen forderte.
"Ich habe damals verstanden: Es ist Krieg", sagt Kosub. Er meldete sich freiwillig für einen Einsatz an der Front im Donbas und wurde verwundet. Er war Teil einer patriotischen Minderheit, die sich Russland in den Weg stellte. Seit dem Überfall im Februar 2022 kämpft er wieder in der ukrainischen Armee.
Hätte die Ukraine um die Krim kämpfen müssen? In der Ukraine denken viele so. "Ich bin versucht zu sagen, man hätte es versuchen müssen", sagt Susan Stewart, Ukraine-Expertin bei der Berliner Denkfabrik "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP).
Sie verweist jedoch auf die "Führungsschwäche in Kiew" damals. Zur Wahrheit gehört auch: Russland zog 2014 Truppen entlang der ukrainischen Grenzen zusammen und drohte schon damals mit einem massivem Einmarsch. Die ukrainische Armee auf der Krim war demoralisiert, große Teile liefen über.
Es kommt auf westliche Hilfe an
Der Krieg im Donbas schien zwischen 2015 und 2022 eingefroren, war jedoch faktisch ein Stellungskrieg, mit tausenden Toten. Warum glaubte der Westen, dass dies so bliebe?
Warum lieferte er der Ukraine keine schweren Waffen und plante weiter Großprojekte wie die Pipeline Nord Stream 2 mit Russland? Susan Stewart erklärt es mit dem Glauben, durch Integration Kriege in Europa verhindern zu können.
Nach 2022 hat sich die Ukraine stark verändert. "Wir kämpfen weiter um die Ukraine, auch wenn der Preis sehr hoch ist", sagt der Soldat Maksym Kosub. Die Armee habe sich sehr stark verändert, sei professioneller geworden, obwohl es immer noch Probleme gibt.
"Die Gesellschaft hat viel Selbstorganisation bewiesen", so Kosub. Als Beispiel nennt er die freiwilligen Helfer, die die Armee seit zehn Jahren versorgen - mit Autos, Nachtsichtgeräten oder Medikamenten.
Kosub glaubt an einen langen Krieg, mit vielen Opfern - und an einen ukrainischen Sieg am Ende. Rückblickend sagt er: "Alle haben Putin und seine Bereitschaft, auf die Regeln zu pfeifen, unterschätzt."
Auch Maryna Ljuschyna glaubt an einen Sieg. Der Krieg habe sie härter gemacht, kompromissloser gegenüber Russland, der russischen Sprache und Kultur, sagt die Schauspielerin.
Irgendwann möchte sie zu ihrem Mann zurückkehren, um dann aber nicht mehr in Konotop, sondern in der Westukraine zu leben: "Dort ist es sicherer." Russland werde ein gefährlicher Nachbar bleiben.
Susan Stewart wagt keine Prognose über ein Jahr hinaus. In Russland erwartet sie keine "Überraschungen". Mit westlicher Unterstützung werde die Ukraine durchhalten, doch die Erschöpfung nach zehn Jahren Krieg sei immer mehr zu spüren.
"Man denkt zu wenig darüber nach, was passiert, wenn die Ukraine verliert", sagt die Expertin. Die Kosten würden "sehr viel höher" ausfallen.