SPD: Scherbenhaufen der Ostpolitik
21. März 2022Sich einzugestehen, dass man falsch lag, ist nie leicht. Das als Politiker öffentlich zu tun, noch weniger. Von daher ist eine Rede bemerkenswert, die SPD-Chef Lars Klingbeil kürzlich in Erinnerung an Egon Bahr zu dessen 100. Geburtstag hielt. Der Politiker gilt als Architekt der Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt, die in Verträge mit der Sowjetunion und Polen und in der Folge auch mit der DDR mündeten.
Schon 1963 plädierte Bahr für "Wandel durch Annäherung", was nur zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer und mitten im Kalten Krieg in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland viele empörte. Der SPD-Stratege aber war der Meinung, dass die verhärteten Fronten nicht durch noch mehr Druck und Gegendruck aufgelöst werden könnten.
Es geht um Interessen, nicht um Menschenrechte
Die Entspannungspolitik basierte auf der Anerkennung des Status Quo und der Annahme, dass eine wirtschaftliche Öffnung zu einer auch politischen und gesellschaftlichen Öffnung führen würde. Erfolgreiche Diplomatie war für Egon Bahr der nüchterne Ausgleich von Interessen. Vor Schülern sagte er einmal: "In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt."
In diesem Sinne plädierte Bahr bis zu seinem Tod 2015 dafür, selbst das zunehmend autoritäre Russland in eine europäische Sicherheitsordnung einzubinden und fand damit unter den Sozialdemokraten viele Anhänger. Ein Fehler, meint SPD-Chef Lars Klingbeil heute. "'Wandel durch Handel' war das Gebot der Stunde. Dieses Konzept ist gescheitert", sagte er auf der Gedenkveranstaltung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.
Russland verstehen
War man in der SPD zu naiv? "Rückblickend müssen wir uns natürlich fragen, ob wir den russischen Einmarsch in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 oder die russischen Auftragsmorde in London und Berlin anders hätten bewerten müssen", sagt Klingbeil selbstkritisch. "Ob wir die Zeichen der Zeit verkannt haben."
"Russland-Versteher" wurden diejenigen genannt, die stets eine Entschuldigung und Erklärung für das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin hatten und alle Bedenken gegen die immer größere Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen beiseite wischten. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, dem Gebiet der ehemaligen DDR, gab es davon viele.
Warnung vor Nord Stream
Der größte "Russland-Versteher" aber war und ist der frühere SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der von 1998 bis 2005 regierte. Zusammen mit Putin trieb er den Bau der beiden Nord Stream-Gaspipelines maßgeblich voran. Sie verbinden Deutschland und Russland auf direktem Weg durch die Ostsee und machen damit andere Gasleitungen, die durch die Ukraine und Polen verlaufen, weniger wichtig. "Wir haben immer vor Nord Stream gewarnt", sagt die Ukrainerin Ljudmyla Melnyk, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik in Berlin. "Wir haben gesagt, wenn die Pipeline gebaut ist, dann werden russische Truppen in der Ukraine stehen."
In der SPD ist die Zerknirschung groß. Die Erfolge der Ostpolitik will man sich dennoch nicht nehmen lassen. Bahr und Brandt hätten in einer anderen Zeit gelebt und seien weitsichtige Strategen und Versöhner gewesen. Zudem hätten sie verstanden, dass man für Annäherung und Kooperation eigene Stärke braucht, betont SPD-Chef Klingbeil. "Zu Zeiten Willy Brandts betrug der Verteidigungshaushalt deutlich über drei Prozent unserer Wirtschaftskraft."
Politische Zeitenwende
Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten das innerhalb der NATO vereinbarte Ziel, zwei Prozent seiner Wirtschaftskraft für das Militär auszugeben, nie erfüllt. Das soll sich jetzt ändern. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "Zeitenwende" in der Außen- und Sicherheitspolitik und hat 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr angekündigt. Zudem soll die Abhängigkeit im Energiesektor abgebaut, neue Lieferanten für Gas und Öl gefunden und die erneuerbaren Energien ausgebaut werden.
Er frage sich, was Willy Brandt und Egon Bahr in der aktuellen Zeitenwende raten würden, so Scholz bei der Gedenkveranstaltung in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Aussage Bahrs, dass Frieden in Europa nur mit und nicht gegen Russland möglich sei, hält der Kanzler auch nach dem Angriffskrieg für richtig.
"Aber zugleich müssen wir erkennen, dass die aktuelle Politik der russischen Führung eine reale Bedrohung für die Sicherheit in Europa ist. Das ist der bedauerliche Ausgangspunkt einer Russlandpolitik, die ganz im Sinne Egon Bahrs mit dem nüchternen Betrachten der Realität beginnen muss, die aber eben dort nicht stehenbleibt." Wer Frieden wolle, müsse bereit sein, zu verhandeln. "Auch wir halten Gesprächskanäle offen und nutzen jede Möglichkeit einer Vermittlung."
Zwischen Putin und den Russen unterscheiden
Ganz wichtig ist Olaf Scholz, Putin nicht mit Russland gleichzusetzen. "Nicht das russische Volk hat die fatale Entscheidung des Überfalls auf die Ukraine getroffen. Dieser Krieg ist Putins Krieg." Diese Differenzierung sei wichtig, "um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufs Spiel zu setzen". Sie sei aber auch wichtig für diejenigen, die in Russland gegen den Krieg und Putin demonstrieren.
Bei seinem Besuch in Moskau Mitte Februar sprach der Bundeskanzler auch mit Vertretern der russischen Zivilgesellschaft. Einer habe zu ihm gesagt: "Wissen Sie, Demokratie wächst aus uns Menschen", erinnert sich Scholz. Eine Erkenntnis, mit der sich Egon Bahr und führende westdeutsche Sozialdemokraten übrigens schwertaten, als die Mauer in der DDR fiel.
1989, als in der DDR längst Zehntausende auf den Straßen demonstrierten, hielt die SPD noch an der SED als bevorzugtem Dialogpartner in Ost-Berlin fest. Egon Bahr hat das später als Fehler bezeichnet. Man habe sich zu wenig um die aufkeimende Opposition, also die Bürgerrechtler in der DDR gekümmert.