Russland-NATO: Aufmarschgebiet Schwarzes Meer
29. Juni 2021Erst der Einsatz von russischen Granaten und Bomben gegen ein britisches Kriegsschiff. Nun das riesige Militärmanöver "Sea Breeze" unter Führung der USA und der Ukraine, an dem mehr als die Hälfte aller NATO-Länder teilnimmt: Das Schwarze Meer, das im Bewusstsein der Öffentlichkeit lange eher als geopolitischer Nebenschauplatz galt, beherrscht derzeit die weltweiten Schlagzeilen. Denn es ist aktuell die gefährlichste Region bei der neuen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, in der auch direkte militärische Zusammenstöße zwischen beiden Seiten nicht mehr ausgeschlossen sind.
Das zeigte der Vorfall um den britischen Zerstörer "HMS Defender" in der vergangenen Woche: Das Kriegsschiff befand sich auf dem Weg von der ukrainischen Hafenstadt Odessa nach Georgien und durchquerte dabei - völkerrechtlich legal - ukrainische Hoheitsgewässer vor der Krim. Russisches Militär versuchte den britischen Zerstörer von seinem Kurs abzubringen; dabei setzte es auch Granaten und Bomben ein, die in unmittelbarer Nähe des Kriegsschiffes explodierten. Denn seit der Annexion der Krim 2014 behauptet Russland nicht nur, die Halbinsel sei russisches Territorium. Es beansprucht auch die umliegenden ukrainischen Hoheitsgewässer als seine eigenen - völkerrechtswidrig.
Es war das erste Mal seit dem Ende des Kalten Krieges, das Russland gegen NATO-Militär bewusst mit Waffengewalt vorging und dabei die Entschlossenheit des nordatlantischen Bündnisses testete, das Völkerrecht zumindest auf See zu verteidigen. Zwar kamen bei dem Vorfall weder Menschen noch das britische Kriegsschiff zu Schaden. Doch in Moskau kündigten Regierungsvertreter, darunter der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow, an, dass Russland Eindringlinge in dem von ihm beanspruchten Seegebiet künftig auch direkt militärisch angreifen werde, sollten Warnungen nicht helfen.
Pufferzone gegen den Westen
Beim Militärmanöver "Sea Breeze" könnte ein solches Szenario Realität werden. An der von den USA und der Ukraine geführten Militärübung nehmen in diesem Jahr insgesamt 32 Länder teil - darunter alle Schwarzmeer-Anrainer außer Russland sowie 17 der 30 NATO-Mitgliedsstaaten. Beteiligt sind rund 5000 Soldaten, 32 Kriegsschiffe, 40 Militärflugzeuge sowie 18 Spezialkommandos. Das Manöver findet seit 1997 jedes Jahr statt, doch das diesjährige ist das bisher größte. Noch ist unklar, ob Übungen auch in russisch beanspruchten Seegebieten vor der Krim oder zumindest in deren Nähe abgehalten werden.
Was derzeit als militärpolitisches Muskelspiel erscheint, ist in Wirklichkeit ein viel ernsterer und tiefer liegender Konflikt - nicht erst seit der Annexion der Krim. Russland beansprucht traditionell die politische und militärische Oberhoheit in der Schwarzmeer-Region - es braucht sie für einen Zugang zum Mittelmeer und zu den Konfliktherden im Nahen Osten und Nordafrika, aber auch als Pufferzone gegen den Westen. Die größten Opfer dieser Politik sind die Ukraine und Georgien, die russisch initiierte oder von Russland geführte Kriege und Annexionen von Teilen ihres Staatsgebiets mit jeweils tausenden von Toten bezahlen mussten. Dass sie abgespaltene oder annektierte Landesteile mittelfristig zurückerhalten, ist nicht in Sicht.
Staatliche Piraterie
Russland greift gegenüber ihnen auch zu Mitteln staatlicher Piraterie und Geiselnahme: So etwa wurden im November 2018 24 ukrainische Seeleute festgesetzt, deren Schiffe völkerrechtlich legal die Meerenge von Kertsch zwischen der Krim und russischem Festland befahren hatten - russisches Militär hatte die Schiffe gestoppt und mit Waffengewalt geentert.
Betroffen von der russischen Aggressionspolitik in der Schwarzmeer-Region sind aber auch die anderen Schwarzmeer-Anrainerstaaten außer der Türkei, mit der Russland mehr gemeinsame strategische Interessen als Gegensätze hat - also Bulgarien und Rumänien sowie die Republik Moldau, die zwar kein direkter Schwarzmeer-Anrainer ist, aber über einen kleinen Donau-Hafen unweit des Schwarzen Meeres verfügt und zudem seit 1991 durch einen von Russland aufrecht erhaltenen separatistischen Konflikt gespalten ist.
Schwarzes Meer als "russischer See"
Der ehemalige rumänische Staatspräsident Traian Basescu hatte den Westen schon 2005 vor russischen Annexionsplänen und kriegerischen Szenarien in der Schwarzmeer-Region gewarnt: "Das Schwarze Meer wird [von Russland] seit Jahrhunderten wie ein russischer See behandelt, haben Sie das nicht mitbekommen?", hatte Basescu damals in einer Rede in den USA gesagt. Die polemische Aussage sorgte seinerzeit für viel Aufregung und Kritik. Doch dass Basescu binnen eines Jahrzehnts gleich in mehrfacher tragischer Hinsicht Recht behalten sollte, hätte er womöglich selbst nicht gedacht.
In Rumänien ist der russische politische Einfluss vergleichsweise gering, im Schwarzen Meer hat es in jüngerer Zeit keine direkten Zusammenstöße mit Russland gegeben. Dennoch existiert im Land ein durch die historische russische und sowjetische Annexionspolitik in der Region bedingtes Bedrohungsgefühl, das durch die Anwesenheit russischer Truppen in Transnistrien, dem separatistischen Landesteil der Republik Moldau, weiter genährt wird.
Bundeswehr-Eurofighter am Schwarzen Meer
Dass dieses Bedrohungsgefühl wächst, zeigte kürzlich eine Initiative des rumänischen Staatspräsidenten Klaus Johannis gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda: Während eines Treffens der neun osteuropäischen NATO-Staaten in Bukarest, dem so genannten B9-Gipfel, riefen die beiden Staatschefs die Allianz zu mehr Präsenz in der Region auf. Johannis warnte vor "zunehmenden destabilisierenden Aktionen Russlands" in der Schwarzmeer-Region.
Weniger eindeutig ist die Lage in Bulgarien, das in realsozialistischer Zeit als 16. Sowjetrepublik galt. Anders als in Rumänien ist Russland wirtschaftlich dort stark präsent, vor allem im Energie-, Banken- und Immobiliensektor; Teile der politischen Elite pflegen enge Beziehungen nach Russland. Getrübt ist das bulgarisch-russische Verhältnis seit Jüngstem jedoch wegen russischer Spionageskandale und mehrerer mutmaßlicher Gift- und Sprengstoffanschläge des russischen Auslandsgeheimdienstes GRU im Land.
Unterdessen unterstützt nun auch Deutschland die Schwarzmeer-Region erstmals militärisch. Die Bundeswehr nimmt zwar nicht am "Sea-Breeze"-Manöver teil. Doch nach dem Vorfall um den britischen Zerstörer "HMS Defender" verlegte die Luftwaffe Ende vergangener Woche zwei Eurofighter aus dem ostfriesischen Wittmund auf einen Militärflughafen nahe der rumänischen Schwarzmeerstadt Constanta. Zusammen mit der britischen Air Force, so ein Sprecher der Luftwaffe, sollen die Eurofighter dort Schutzflüge über der Schwarzmeer-Region unternehmen.