Rumäniens "Jahrhundertprozess" wird neu aufgerollt
7. August 2022Rumänien war das letzte kommunistische Land in Mittel- und Osteuropa, das 1989 von der Welle des politischen Wandels erfasst wurde. Im Dezember, als die anderen Sattelitenstaaten des Kremls schon eifrig den Machttransfer und das Mehrparteiensystem exerzierten, starben hunderte unschuldige Menschen, die auf den Straßen gegen das kommunistische Regime protestierten. Offizielle Berichte sprechen von 1116 Frauen und Männern, die während der blutigen Schießereien vor und nach der Flucht des Diktatorenpaars Nicolae und Elena Ceausescu getötet wurden. Rund 80 Prozent der Opfer wurden allerdings nach dem Sturz der Diktatur verzeichnet, als bereits in der Hauptstadt Bukarest und landesweit eine neue politische Struktur die Macht ergriffen hatte. Der Kern dieser Struktur bestand aus Apparatschiks der eilig aufgelösten kommunistischen Partei und des gefürchteten Geheimdienstes Securitate.
Catalin Regea war 20 Jahre alt, als die Revolution am 16. Dezember 1989 in Temeswar/Timisoara, im Westen Rumäniens, begann und sich von dort aus auf das ganze Land ausdehnte. Heute, mehr als drei Jahrzehnte danach, gibt der damalige Student verbittert zu, dass er und seine Kommilitonen betrogen wurden: "Uns schien, dass die Revolution nach dem Sturz Ceausescus am 22. Dezember gesiegt hatte. Weit gefehlt! Es wurde auch noch Tage danach aus allen Rohren geschossen. Wir wussten nicht, wer uns angreift. Jetzt wissen wir es: Der Feind saß bereits an der Spitze der neuen politischen Führung", sagt der Revolutionär Regea.
Drei Jahrzehnte der Verwirrtheit
Jetzt, gut 33 Jahre nach den blutigen Ereignissen, wird das Verfahren gegen den ersten postkommunistischen Präsidenten des Landes, Ion Iliescu, und zwei weitere Mitbeschuldigte neu aufgerollt. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die Militärstaatsanwaltschaft hat die Anklageschrift überarbeitet, nachdem 2021 der Oberste Gerichtshof den Fall "wegen Verfahrensfehlern" an die Ermittler zurückgegeben hatte. Diese Fehler sollen nun behoben worden sein.
Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen neben Altpräsident Ion Iliescu der frühere Vizepremierminister Gelu Voican Voiculescu sowie der Ex-Luftwaffenchef General a. D. Iosif Rus. Iliescu wird beschuldigt, als Staats- und Regierungschef sowie Leiter des Rats der Front zur Nationalen Rettung und des Obersten Militärrats die Öffentlichkeit systematisch in die Irre geführt zu haben, um seine frisch erworbene politische Macht zu stärken. Das habe eine "allgemeine Terrorismuspsychose" verursacht, in der es zu zahlreichen Gefechten und einzelnen Schusswechseln kam. Bis zum 30. Dezember 1989 seien 857 Todesfälle, 2382 Verletzungen, 585 schwere Freiheitsberaubungen unter Missachtung völkerrechtlicher Bestimmungen und 409 Fälle von schwerer Leidzufügung verzeichnet worden, heißt es in der Anklageschrift. Die beiden Mitbeschuldigten hätten durch ihre Anordnungen die Operation umgesetzt.
Die Ermittlungen wurden über die Jahre immer wieder verzögert, mehrere Urteile wurden kassiert, weil einige der Straftatbestände nicht im rumänischen Strafgesetzbuch enthalten waren. Das Verfahren wurde wiederholt eingestellt und wiederaufgenommen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) strafte Rumänien aufgrund der Verzögerungen mehrfach ab.
"Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
Auf Druck des EGMR wurde das Verfahren 2016 wieder eröffnet, aber auch diesmal wurde die Akte schnell auf Eis gelegt. Der damalige Generalstaatsanwalt Bogdan Licu räumte ein, dass es in der Militärstaatsanwaltschaft kein Interesse dafür gab, "wesentliche Aspekte" im Zusammenhang mit den Dezember-Ereignissen zu untersuchen.
Warum das so war? Germina Nagat, Leiterin der rumänischen Stasi-Unterlagen-Behörde CNSAS, findet eine Erklärung dafür in der Art und Weise, wie der neue demokratische Staat nach 1989 entstanden ist: "Wir hatten einen politisch zurückgebliebenen Staat, der nur schwer auf die demokratische Spur gebracht wurde. Die Justiz war völlig unter politischer Kontrolle und konnte nicht über Nacht reformiert werden. Das völlig verfilzte System habe zu dieser riesigen Verzögerung geführt", so Nagat im DW-Gespräch. Das sei auch der Hauptgrund, weshalb das Verfahren seit drei Jahrzehnten andauere. Beweismittel seien unterschlagen und zerstört worden, einige der Täter und der Zeugen bereits verstorben.
Erst die Wiedereröffnung des Verfahrens im Jahr 2021 habe eine Anklageschrift gegen die Beschuldigten - darunter auch Altpräsident Ion Iliescu - möglich gemacht. Die Untersuchungen hätten den Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestätigt, sagt Generalstaatsanwältin Gabriela Scutea im Gespräch mit der DW: "Die Einzigartigkeit dieser Untersuchungen besteht darin, dass derartige Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zusammengefasst werden können wie Steuerbetrug, Korruption oder ein Verbrechen nach allgemeinem Recht." Die einzelnen Tatbestände und die Personen, die nach dem Sturz der Diktatur die Führung und somit die Verantwortung im Staat übernommen hätten - das alles sei akribisch untersucht und in der Anklageschrift festgehalten worden.
Irreführung "wie im Lehrbuch"
"Niemand behauptet, dass Ion Iliescu auf die Straße gegangen ist und Menschen erschossen hat", erklärt Catalin Pitu, Leiter der Militärstaatsanwaltschaft, gegenüber der DW. Man könne aber auf unterschiedliche Art und Weise töten, so der Chef-Ankläger weiter. So habe Iliescu durch seine TV-Auftritte als neuer starker Mann im Staat - und somit auch als Oberbefehlshaber der Armee - die öffentliche Meinung systematisch manipuliert und irregeführt. Er habe bewusst die Gefahr des Terrorismus heraufbeschworen und somit eine allgemeine Psychose ausgelöst, die zu den Gefechten auch nach dem Sturz der Diktatur geführt hätte. Diese Irreführung sei nicht zufällig geschehen, sondern "wie im Lehrbuch" umgesetzt worden, sagt der Militärstaatsanwalt.
Der Verdacht der Irreführung und Manipulation, der seit über 30 Jahren in der rumänischen Öffentlichkeit herumgeistert, wird jetzt in der Anklageschrift voll bestätigt. Die "Terroristen", vor denen Iliescu gewarnt hatte, habe es nie gegeben, so die Untersuchungen. Bestätigt wird auch, wer die Hauptschuldigen dieser "Diversions- und Desinformationskampagne" sind: Ion Iliescu und seine Kamarilla.
Das Verfahren ist ein neuer Lackmustest für die rumänische Justiz. Wie lange es aber dauern wird, bis die Schuldigen bestraft werden, kann niemand sagen. Es müsste schnell gehen, meint der Revolutionär Catalin Regea: "Auch ein zehnjähriges Kind versteht die Anklage", sagt er ironisch. Dabei steht für ihn nicht die Verurteilung des inzwischen 92-jährigen Iliescu im Vordergrund. Aber für die Glaubwürdigkeit der rumänischen Geschichtsschreibung sei es wichtig, dass Iliescu nicht als Held, sondern als Verbrecher in die Schulbücher einginge.