Die Angst ist bei uns geblieben
20. Dezember 2019Meine Mutter und ich waren im Ferienort Sinaia, als die "Ereignisse" von Dezember 1989 ihren Lauf nahmen. Vielleicht hatte sie Urlaub, vielleicht waren wir nur für ein Wochenende dort. Ich erinnere mich nur, dass es kalt und dunkel war. Um uns aufzuwärmen, sind wir in eine Konditorei mit einem Terrakotta-Ofen gegangen. Draußen lag überall Schnee und ich hatte nasse Füße.
Auf einmal waren die Leute auf den Straßen sehr verwirrt und aufgeregt, viele sagten, das Wasser sei vergiftet worden. Ein junger Mann drückte uns ein "Manifest" in die Hand, eine Zeitungsseite, auf die jemand mit Filzstift so etwas wie "Nieder mit dem Kommunismus!" geschrieben hatte. Das war meine erste Begegnung mit dem Wort "Manifest". Erst als Dreißigjährige merkte ich, dass meine Erinnerungen an die erste Begegnung mit Worten viel klarer sind als jene an Begegnungen mit Menschen. Manchmal weiß ich nicht einmal mehr so genau, wie ich Menschen zum ersten Mal getroffen habe, die mir sehr wichtig sind, doch einige Wörter sind auf so brutale Weise in meinen Geist eingedrungen, dass es mir sehr bewusst ist, wann ich ihnen zum ersten Mal begegnet bin. Das Manifest nahm ich damals mit nach Hause, viele Jahre lang blieb es in der Schublade einer Kommode, in der meine Mutter wichtige Dokumente aufbewahrte.
Verwirrung auf den Straßen und vor dem Fernseher
Wir fuhren mit dem Zug zurück in unsere Heimatstadt Brăila. Zuhause saßen meine Großeltern vor dem Fernseher, genauso verwirrt wie die Leute in Sinaia. Im rumänischen Fernsehen TVR (dem einzigen TV-Sender des Landes zu der Zeit, der sich an jenen Tagen zu "Televiziunea Română Liberă" umbenannte, also "Freies Rumänisches Fernsehen", Anm. d. Red.) hörten wir live die Worte "Fraților, am învins!" ("Brüder, wir haben gesiegt!").
Vor Kurzem fragte mich ein ausländischer Journalist, ob ich mich an die Szene der Exekution des Ceaușescu-Ehepaars erinnere. Natürlich erinnere ich mich, ich habe die Bilder so oft im Fernsehen gesehen. Jedes Jahr werden wir im Dezember an diese Szene erinnert, sie gehört zu unserem vorweihnachtlichen Kanon. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Bilder gesehen habe, als das Ganze wirklich passierte (am 25. Dezember 1989 wurden Nicolae Ceaușescu und seine Frau Elena hingerichtet, Anm. d. Red.). Es ist möglich, dass mein Geist diesen Bildern erst viel später ihren Platz zugewiesen hat. Die Frage des Journalisten verblüffte mich. Das Thema seines Beitrags sollte mein Roman "Interior zero" (Deutsch: Null Komma Irgendwas) sein, ich weiß nicht, wie wir überhaupt auf die Hinrichtung des Diktators gekommen waren. Das war in einer anderen Welt passiert, in einem anderen Leben, das nicht meines war. Außerdem hatte ich nie darüber nachgedacht, ob ich Ceaușescu bedauerte. 1989 war ich ein Kind und hatte Mitleid mit vielen Lebewesen. Wahrscheinlich hätte ich auch ihn bemitleidet. Aber ich antwortete etwas Anderes: Nein, ich hätte ihn nicht bedauern können!
Welchen Zweck hatte die Erschießung? Und wer tat das?
Meine Tante hatte damals einen einjährigen Sohn und wohnte in einer anderen Stadt, nicht weit entfernt von unserer. Sie erinnert sich an chaotische Schüsse rund um das Bahnhofsgebäude. Den Kleinen hatte sie an ihrer Brust versteckt, sie brachte ihn zu ihren Eltern. Immerhin wusste sie, dass sie Haus und Hof nicht verlassen würden, sie waren in jenem Jahr beide in Rente gegangen. Was mich heute sogar noch mehr berührt als die Gefahr, der sie ausgesetzt war, ist die Arbitrarität und Absurdität der potenziellen Tragödie. Mit welchem Zweck wurde geschossen? Und wer tat das? Das wurde auch gerichtlich niemals geklärt. Wir warten, dass ein paar Befreiungshelden an Altersschwäche sterben, die uns vor der Tyrannei gerettet haben. Danach wird das alles nicht mehr zählen. Es wird nur noch eine Geschichte sein.
Im Herbst 1989, mit sechseinhalb, hätte ich eigentlich schon in die Schule gehen sollen. Doch die Kinder aus meiner Stadt wurden schon ab der dritten Klasse zur landwirtschaftlichen Arbeit eingezogen. Man sammelte sie mit einem LKW auf und ließ sie stundenlang auf dem Feld. Es spielte keine Rolle, dass es dort weder Toiletten noch Schatten gab, der LKW holte dich nur zu den festgelegten Zeiten ab. Meine Tante leidet auch heute noch unter einer Nierenkrankheit, die von dem stundenlangen Warten im strömenden Regen auf dem Feld ausgelöst wurde. Meine Eltern zogen es also vor, meine Einschulung um ein Jahr zu verschieben, damit ich größer und kräftiger bin, wenn man mich zur Feldarbeit abholt. Jemand ging von Tor zu Tor, um die Kinder im Schulalter zu zählen, und ich erinnere mich daran, wie diese Person auch bei uns anklopfte. Ich musste mich im Haus verstecken, mein Opa sagte, ich sei weggezogen, um bei meinem Vater zu wohnen. Es war das einzige Mal, dass uns eine Geschichte geholfen hat, die etwas mit meinem Vater zu tun hatte.
Gleiche Schulbücher - nur ohne Ceaușescu-Porträt
Und dann kamen die "Ereignisse" aus dem Dezember und das alles zählte nicht mehr, niemand musste mehr zur sogenannten "patriotischen Arbeit". Im September 1990 wurde ich eingeschult, im Alter von sieben bis 19 Jahren lernte ich aus den gleichen Schulbüchern wie schon viele Generationen vor mir. Einige hatten sogar den gleichen Umschlag wie die Schulbücher meiner Mutter, die mein Opa immer noch in einem Abstellraum aufbewahrte. Der einzige Unterschied: Die erste Seite mit dem Porträt des "geliebten Führers" Ceaușescu war verschwunden.
Auch ich bin ein Produkt dieses Bildungssystems, das unglücklicherweise bis heute nicht grundsätzlich erneuert wurde. Im November 1989 fand der 14. Kongress der Kommunistischen Partei Rumäniens statt, bei dem Ceaușescu als Staatschef wiedergewählt wurde. Natürlich einstimmig. Als Sechsjährige war ich damals in der Gruppe der Ältesten im Kindergarten meines Stadtteils, genau dort, wo heute die Wahllokale sind, in denen ich Politikern meine Stimme gebe. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie unsere Erzieherin von uns verlangte, dass wir aufstehen, in die Hände klatschen und den Reim skandieren: "La al paișpelea congres/Ceaușescu reales" (Beim 14. Kongress/Ceaușescu wiedergewählt). Wir standen und riefen diese Worte feierlich im Chor, als sechsjährige Kinder, die in dem Moment niemand anderer beobachtete als die Erzieherin. Als Erwachsene, nachdem ich selber mit kleinen Kindern an einer Schule gearbeitet hatte, fragte ich mich irgendwann, wie die Geste unserer Erzieherin zu erklären war. Hatte sie Angst, dass sie beschattet wird und jemand sie denunzieren könnte, weil sie ihre Kindergartengruppe nicht dazu anleitet, diese Worte aufzusagen? Tat sie das aus Überzeugung? Oder einfach aus Trägheit?
Ich habe nicht sehr viele deutliche Erinnerungen an die Zeit vor 1989, weil ich zu klein war. Aber was für mich noch sehr präsent ist, ist die misstrauische Atmosphäre in der ganzen Gesellschaft, bis hinein in die Familien. Die Angst ist bei uns geblieben, selbst wenn sie in den vergangenen 30 Jahren immer wieder neue Formen angenommen hat. Auch die Demut ist noch da. Doch nach so langer Zeit, in der wir so viel über sie gesprochen haben, ist jene ganz bestimmte Angst von damals heute nur noch eine Geschichte.
Die rumänische Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Lavinia Braniște lebt und arbeitet in Bukarest. Ihr erster Roman mit dem rumänischen Originaltitel "Interior zero" wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Null Komma Irgendwas" im mikrotext-Verlag, Berlin. Ihr zweiter Roman "Sonia ridică mână“ ("Sonia erhebt die Hand“), wurde im November 2019 im Polirom-Verlag, Iaşi, veröffentlicht und wird ebenfalls ins Deutsche übersetzt.
Übersetzung aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle