Ciulli, der Clown
1. April 2014Roberto Ciulli, der Gründer und Intendant des Theaters an der Ruhr, ist in seinem Haus allgegenwärtig: Vor Beginn der ausverkauften Vorstellung von "Clowns 2 ½" hält er eine kurze Rede im Foyer. "Der Ciulli spricht", ruft er, und erzählt den Besuchern von der Geschichte der Clowns-Kunst. Danach reißt der 80-Jährige selbst die Karten am Einlass ab und reicht dem letzten Gast einen Klappstuhl für die erste Reihe.
Surrealistische Inszenierungen für das deutsche Theater
Der am 1. April 1934 im italienischen Mailand geborene Theatermann sucht die Nähe zum Publikum - und dieses dankt es ihm mit Treue zu seinem Theaterhaus. Dabei traf Ciulli mit seinen surrealistischen Aufführungen nicht immer auf Gegenliebe, als er das Theater an der Ruhr (TAR) im nordrhein-westfälischen Mülheim 1980 gründete, zusammen mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer, dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben und der Stadt Mülheim. Er wollte auf seiner eigenen Bühne den "Blick der Moderne" durchsetzen, den er bis dahin an anderen deutschen Stadttheatern vermisste. Dieser Blick vertrete die Auffassung, "dass die Realität nicht genau das ist, was wir sehen", sagt Ciulli. "Aber vielleicht verbirgt sich dahinter eine andere Realität. Und dann muss eine Frau beispielsweise drei Nasen haben. Und eine Pfeife ist nicht eine Pfeife, sondern ein Fahrrad." Diese Auffassung von der surrealen Welt wollte er durchsetzen, auch bei einem traditionellen Publikum, "das im Theater lieber sieht, was es kennt".
"Weil wir jedoch den Eindruck hatten, große Teile des Publikums verstehen uns nicht, fühlten wir uns wie Fremde im eigenen Land", erinnert sich Ciulli an die Anfänge seiner Arbeit im TAR. So reiste man in andere Staaten, um Theatergruppen zu treffen, denen es ähnlich ging. Das erste Gastspiel führte Ciulli und sein Ensemble 1983 in das damalige Jugoslawien: "Und obwohl wir in deutscher Sprache spielten, verstand uns das Publikum. Das hat uns Kraft gegeben, in Deutschland weiterzumachen." Die Jugoslawen kamen zum Gegenbesuch, es entstand die Idee eines neuen und anderen Theaters: eines Theaters, in dem die Idee des Reisens und des Kulturaustausches im Zentrum steht. In über 30 Jahren besuchte Roberto Ciulli mit seinem Ensemble 30 Länder, und aus ebenso vielen Nationen kamen Theatergruppen als Gäste des TAR nach Deutschland.
NRW-Staatspreis für Roberto Ciulli
"Der kulturelle Austausch über Ländergrenzen hinweg ist meiner Meinung nach die Seele der Kultur", sagt Ciulli, der in Italien Philosophie studiert und über den deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel promoviert hat. Für seine Arbeit hat Ciulli im November (20.11.2013) - gerade zurückgekehrt von einer Tournee in Algerien - den Staatspreis Nordrhein-Westfalen (NRW) erhalten. Ciulli habe jahrzehntelang und unermüdlich als "Brückenbauer zwischen den Kulturen" gewirkt, begründete NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im September die Vergabe der höchsten Auszeichnung des Bundeslandes. Frühere Preisträger waren der Künstler Gerhard Richter, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und der Philosoph Jürgen Habermas.
2002: Auf Theatertournee im "Schurkenstaat" Irak
Internationale Kooperationen gibt es natürlich auch an anderen deutschen Theatern. Das Besondere an Ciullis Arbeit ist: Er geht nicht nur in die europäischen Nachbarstaaten oder in die USA. Nach Jugoslawien folgten ab den 1980er Jahren die Türkei, Chile, Ecuador, Costa Rica, Russland, Iran, Syrien, Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan. Sogar in den Irak reiste Ciulli im Frühjahr 2002 - zu einem Zeitpunkt, als die USA dem Land mit Krieg drohten, als Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001. Bereits im November 2001 war das Irakische Nationaltheater zu einem Gastspiel in Mülheim gewesen. Noch im März 2001 hatte Ciulli mit dem irakischen Kultusministerium diesen Austausch vereinbart und hielt trotz der politischen Entwicklung im Irak und weltweit daran fest. Von 1991 bis 2001 produzierte das TAR auch Inszenierungen des angegliederten Roma-Theaters "Pralipe".
Als Robin Hood der deutschen Theaterszene sieht sich der Mann mit den schütteren grauen Locken jedoch nicht. "Man braucht kein Held zu sein, um sich heutzutage für Emigranten, Roma, Flüchtlinge oder andere Gruppen einzusetzen. Es ist nicht mal ein besonderes Bildungsniveau oder hohe Intelligenz nötig, um sich dafür zu entscheiden. Es sollte selbstverständlich sein", sagt der Regisseur.
Ciulli, der Clown
Altmeister, Theaterkosmopolit und erfahrener Fuchs der deutschen Bühnen wird Ciulli genannt. Als Clown sieht er sich selbst am liebsten: "Ein Clown ist jemand, der sich immer in einer fremden, verkehrten Welt befindet, und versucht, darin zu leben", erklärt der Regisseur. Bei ihm habe das schon in der Kindheit damit angefangen, dass er als Rothaariger geboren wurde - in einer Familie mit lauter Schwarzhaarigen. "Ich habe von Anfang an festgestellt, dass ich nicht dazu gehöre, und versucht, mir eine andere Welt zu schaffen", sagt Ciulli, der in einer großbürgerlichen, streng katholischen Familie aufwuchs.
Auch als Reisender sieht sich Ciulli, der 1965 nach Deutschland kam. In Italien hatte er bereits am Theater gearbeitet, wollte aber nach einer schweren Krankheit mit fast 30 Jahren sein Leben grundsätzlich ändern. In Deutschland verdiente er zuerst sein Geld durch Jobs beispielsweise als LKW-Fahrer, kehrte jedoch Ender der 60er Jahre an die Bühne zurück. Als Theatermacher arbeitete er unter anderem in Göttingen, Köln, Berlin und Düsseldorf, bevor er 1980 Intendant des neu gegründeten Theaters an der Ruhr wurde.
Das Theater als Heimat
Fast 50 Jahre in Deutschland, und trotzdem ist dies nicht seine Heimat. "Ich glaube, geografisch braucht man keine Heimat, so wie ein Pass unnötig ist, um etwas über einen Menschen zu sagen", meint Ciulli kurz vor seinem 80. Geburtstag. Eine sprachliche Heimat hat er sehr wohl im Deutschen gefunden. Seine Heimat ist das Theater an der Ruhr.
Ciulli ohne TAR und TAR ohne Ciulli sind schwer vorstellbar. Ans Aufhören denkt der Mann mit dem scharfen Verstand noch immer nicht: "Ich weiß, dass es irgendwann aufhören wird. Aber derzeit ist es überhaupt kein Thema", sagt er. Am Ende der Aufführung von "Clowns 2 ½", das ganz ohne Worte auskommt, eilt der Meister selbst noch einmal über die Bühne und entlässt die im Schrank versteckten Clowns in die Freiheit.