Migration - mehr als ein Alibi auf der Bühne?
29. September 2012Die Hauswand ist mit Theaterplakaten beklebt und Graffitis besprüht. Rechts und links stehen Wohnhäuser. Das Theater Ballhaus Naunynstraße im Berliner Bezirk Kreuzberg fällt als Bühne kaum auf, gäbe es nicht die Fahne mit dem Hundelogo und die beleuchtete Werbung. In Kreuzberg haben viele Bewohner türkische oder andere ausländische Wurzeln. Ein guter Standort, um von hier aus das Thema Migration in die deutsche Theaterwelt zu bringen.
"Es hat etwas Selbstverständliches gefehlt"
Das ist den Machern des kleinen Stadtteiltheaters mit seinen 99 Sitzplätzen im stuckverzierten ehemaligen Ballsaal von 1863 offenbar gelungen. Es gibt heute kaum ein deutsches Theater, das nicht ein Stück zum Thema Migration inszeniert. Auch die Besetzungslisten klingen internationaler. "Das deutsche Theater war, mit einzelnen Ausnahmen, die letzte Trutzburg, in der das Thema Migration kaum stattfand", sagt Shermin Langhoff, die 2008 die Leitung des Theaters Ballhaus Naunynstraße übernommen hat. "Am Theater hat etwas gefehlt, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: Die neuen Deutschen als Erzählende, als Protagonisten, als Publikum."
Langhoff ist einer der Köpfe hinter dieser Entwicklung, die von der Naunynstraße in Berlin ausging, weil hier etwas anders gemacht wurde als an anderen Bühnen. Im Ballhaus erzählen, inszenieren und zeigen seit 2008 vor allem Autoren, Regisseure und Schauspieler mit postmigrantischem Hintergrund ihre Geschichten. Sie sind Kinder oder Enkel von Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind. "Und dabei kommen auch noch schöne Theaterabende heraus", sagt Langhoff. Sie selbst wurde in der Türkei geboren und kam mit neun Jahren hierher.
Haben die Theater angemessen reagiert?
Die Bilanz seit 2008 fällt jedoch gemischt aus. Das Ballhaus ist inzwischen mit seinen Stücken und Regisseuren wie Nurkan Erpulat über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und gilt als Vorzeigebühne und Experimentiertheater. Längst gehen auch Bildungsbürger aus den wohlhabenderen Stadtteilen in die angesagten Aufführungen mit den zeitgenössischen Themen. Die Stadt- und Staatstheater haben ebenfalls reagiert, aber nicht genug, meint Langhoff. "Bei den künstlerischen Leitungen scheint es jetzt die eine oder andere internationale Bewegung zu geben", sagt die Theaterfrau. Auch ihre Berufung als Intendantin an das Maxim Gorki Theater in Berlin, wohin sie Anfang 2013 wechselt, gehört dazu. Personell habe sich laut Langhoff sonst nicht so viel verändert. "Es gab Konzepte, wie am Stadttheater in Köln, wo sehr auf ein interkulturelles Ensemble gesetzt wurde. Das ist ganz klar gescheitert." Ob das an der Qualität der Schauspieler lag oder es andere Gründe gab, dazu gehen die Meinungen auseinander.
Welche Rolle spielt die Herkunft von Schauspielern?
Für Schauspieler, die anders aussehen, scheint es schwieriger zu sein, Engagements zu bekommen. "Sie werden immer noch auf bestimmte Rollen reduziert. Auch Regisseure dürfen nicht alles inszenieren", weiß Tuncay Kulaoglu, langjähriger Chefkurator am Ballhaus, zu berichten. "Schauspieler erzählen uns, dass ihnen beim Vorsprechen gesagt wird: 'Mit Ihrem Hintergrund sollten Sie sich besser beim Ballhaus bewerben.' Das ist ein Armutszeugnis", findet Wagner Carvalho, neuer Co-Intendant des kleinen Theaters. Denn genau das wollen die Macher in der Naunynstraße nicht. "Wir wollen gar nicht mehr darüber reden müssen, ob Shakespeares Figur des 'Othello' schwarz oder weiß sein kann", sagt der Brasilianer. Carvalho und Kulaoglu leiten zusammen, als Langhoffs Nachfolger, seit September 2012 das Ballhaus.
Einer, der sich mit dem Thema Migration am deutschen Theater schon seit über 30 Jahren beschäftigt, ist Roberto Ciulli. Der Italiener gründete 1980 zusammen mit Helmut Schäfer das "Theater an der Ruhr". Seit Mitte der 1980er Jahre werden regelmäßig Theater aus Ländern wie Ex-Jugoslawien, Polen oder der Türkei nach Mülheim eingeladen, um in ihrer Sprache zu spielen. Ciulli hat manche Entwicklung am deutschen Theater kommen und gehen sehen.
"Das ist viel Arbeit"
Ciulli meint, es sei zwar etwas geschehen bei der Auswahl der Schauspieler, Stücke und Regisseure, doch das reiche nicht: "Jedes Theater, das sein Image ein bisschen aufpolieren möchte, geht heute sofort auf Internationalität. Oft ist das aber leider nur ein Alibi, um zu sagen: 'Wir beschäftigen uns auch mit dem Thema Migration'." Man müsse sich aber angucken, wie sehr künstlerische Leitung und Ensemble wirklich hinter einer internationalen Arbeit stünden, sagt Intendant Ciulli. "Das ist viel Arbeit, man muss sehr sensibel sein und die Sache ernsthaft verfolgen."
Es bestehe durchaus die Gefahr, dass viele das Thema Migration nur "als eine schöne Farbe am Stadttheater" sehen würden. "Man muss die Migration in Deutschland eigentlich als Schatz bewerten. Sie ist - vielleicht - das wichtigste", meint der Theatermann.
Theater muss lebendig sein
Kulaoglu und Carvalho vom Ballhaus wollen die Nachwuchsförderung als einen Schwerpunkt behalten. So läuft derzeit das Stück "Die Saison der Krabben" von Hakan Savas Mican, das in der Naunynstraße seine Uraufführung hatte. Ab 2013 wollen Ballhaus und Gorki-Theater bei der Förderung junger Talente zusammenarbeiten. "Unser Ziel ist es, die Komplexität und Vielfältigkeit der Gesellschaft abzubilden", sagt Kulaoglu.
Ciulli meint: "Es ist klar, dass das Theater sich auf die veränderte soziale Wirklichkeit einstellen muss. Man merkt sofort, ob ein Theater tot oder lebendig ist."