Ringen um Ungarns EU-Kulturkommissar
18. September 2014Geht es nach dem designierten Brüsseler Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker, so übernimmt Tibor Navracsics in diesem Herbst das Kultur-Ressort. Am 22. Oktober stimmt das EU-Parlament über Junckers' Kabinett ab – und zwar als Paket. Doch im Parlament regt sich Widerstand. Einzelne Kandidaten abzulehnen, ist nicht möglich. Deshalb befragen die Europaparlamentarier die Kandidaten vorher in ihren Fachausschüssen. Dort drohen zumindest dem Ungarn Navracsics unangenehme Fragen.
Mitverantwortlich für den Rechtsruck
Der Jura-Professor Navracsics ist derzeit Außenminister seines Landes. Davor war er vier Jahre lang Justizminister in Budapest, als Teil der rechtsnationalen Regierung unter Premier Viktor Orbán. Kritiker werfen der Regierung vor, durch weitreichende Verfassungsänderungen die Bürgerrechte beschnitten zu haben. So ist Navracsics mitverantwortlich für den Rechtsruck in Ungarn. Seither herrscht dort ein gesellschaftliches und politisches Klima, das für kritische Stimmen kaum Platz lässt. Missliebige Theater-Intendanten wurden durch regierungsnahe ersetzt. Kritische Museumschefs mussten gehen – zum Beispiel im Jüdischen Museum in Budapest. Ein neues Mediengesetz unterdrückt unliebsame Berichterstattung.
Das alles passt nicht zum Verständnis von Demokratie und Kultur in der Europäischen Union. Wie will ein Vertreter einer solchen Regierung europäische Kulturpolitik vertreten, die seiner bisherigen Regierungspraxis zuwider läuft?, werden die EU-Abgeordneten Navracsics fragen. Doch ist das Kulturressort vielleicht nicht so wichtig? Könnte Jean-Claude Juncker hier ein Auge zudrücken? Rolf Bolwin, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins, verneint: "Das kann ich nicht nachvollziehen. Navracsicsic soll zuständig sein für das, was Europa zusammenbindet - für Kultur und Bildung", betont Bolwin im Gespräch mit der Deutschen Welle. "das ist für Europa von zentraler Bedeutung!"
"Europäische Kulturpolitik immer wichtiger"
Genau so sieht das Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats: "Die EU-Kommission wird immer wichtiger für alles, was wir machen", sagt er im DW-Gespräch. Die europäische Kulturpolitik gewinne an Bedeutung für die Nationalstaaten und gebe immer öfter die Linie vor – etwa beim Thema Urheberrecht, dem Marktordnungsrecht der Künstler. Die Nationalstaaten müssten erkennen, dass sie einen großen Teil ihrer Kulturkompetenz nach Brüssel abgegeben hätten. "Deswegen muss die Kommission diesen Bereich auch stärker beachten!", meint der Sprecher des Deutschen Kulturrats, dem heute 236 kulturelle Dachverbände und Organisationen angehören. Klar ist auch: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen mit den USA kommt kulturellen Fragen eine wachsende Bedeutung zu.
"Ungarn ist keine Demokratie mehr", bilanziert der Schriftsteller György Konrád. Der frühere Präsident der Berliner Akademie der Künste sieht das Land nach einem Bericht der Berliner Zeitung "in der Nähe einer mittelasiatischen Alleinherrschaft". Seit der Machtübernahme von Orbáns Fidesz-Partei im Jahr 2010 sah sich der regierungskritische Konrád selbst mehrfach feindseliger Agitation und antisemitischer Hetze ausgesetzt - wie andere Intellektuelle in Ungarn auch. Die mögliche Ernennung Tibor Navracsics zum EU-Kulturkommissar bleibt vorerst ein Zankapfel.