Repressionen bis ins Grab: Nawalnys Beerdigung in Moskau
1. März 2024"Na-Wal-Ny!", skandieren die Menschen immer wieder vor der Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone "Lindere meine Trauer" im Moskauer Stadtteil Marjino. In der Kirche ist der Leichman von Alexej Nawalny aufgebahrt, davor hat sich seit Freitagmorgen eine Schlange von mehreren Kilometern gebildet: Tausende Russinnen und Russen wollen dem schärfsten Kremlkritker ihre letzte Ehre erweisen. Unweit der Versammlung liegt die Lublinskaja-Straße, in der Nawalny lebte.
Am Vorabend der Beerdigung gab es viele Absagen von Bestattungsunternehmen - aus Angst, sich an einer "nicht genehmigten Versammlung" zu beteiligen, wie die russischen Behörden Nawalnys Trauerfeier bezeichneten. Im letzten Moment erklärte sich eines der Unternehmen dann doch noch bereit, einen Leichenwagen zur Verfügung zu stellen.
Am Tag der Beisetzung halten viele Blumen in den Händen. Die "Na-Wal-Ny"-Rufe wollen nicht enden, wie schon vor zehn Jahren auf den Straßen von Moskau und Sankt Petersburg, als Alexej Nawalny seinen aktiven politischen Kampf führte. Er kandidierte für das Amt des Moskauer Bürgermeisters und führte dann 2018 einen Präsidentschaftswahlkampf. Im Laufe der Jahre wurde es immer gefährlicher, Nawalnys Namen in der Öffentlichkeit zu nennen. Tausende Anhänger des Oppositionspoltikers wurden verhaftet, seine engsten Mitarbeiter leben inzwischen im Exil.
Keine Massenverhaftungen
Diesmal verzichten die Behörden aber auf Massenverhaftungen, trotz der ursprünglichen Drohungen, alle, die zur Beerdigung kommen, als Teilnehmer einer nicht genehmigten Versammlung zu bestrafen. In der Hauptstadt Moskau werden zunächst nur sechs Personen festgenommen. In den russischen Regionen ist die Polizei weniger zurückhaltend: In Jekaterinburg, Woronesch und Nowosibirsk nehmen die Ordnungskräfte im Laufe des Tages mindestens 45 Personen fest. Einige von ihnen wollten Blumen an den Denkmälern für politische Gefangene niederlegen. Im Rahmen der Gedenk- und Trauerveranstaltungen sollen laut der NGO "OVD-Info" in ganz Russland insgesamt über 90 Personen inhaftiert worden sein.
Nur ein paar Dutzend Menschen, darunter Nawalnys Mutter und Vater, dürfen die Kirche betreten. Das Gelände ist abgesperrt - eine Reihe von Polizeibeamten steht entlang den am Vortag errichteten Metallzäunen von der nächstgelegenen U-Bahn-Station bis zur Kirche. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche gibt es erhebliche Probleme mit dem Internet. Journalisten müssen ihre Live-Übertragungen immer wieder abbrechen.
"Danke für die 26 Jahre absoluten Glücks"
Weder Nawalnys Frau Julia Nawalnaja noch ihre gemeinsamen Kinder sind anwesend. Aus Sicherheitsgründen kam die Familie nicht nach Russland. Erst zwei Tage zuvor hatte Julia Nawalnaja vor dem Europaparlament eine Rede gehalten. Sie machte Russlands Präsidenten Wladimir Putin persönlich für den Tod ihres Mannes verantwortlich. "Ljoscha, danke für die 26 Jahre absoluten Glücks", schrieb sie später auf Instagram und versprach, den Kampf gegen das Regime Putins fortzusetzen.
Nach dem Trauergottesdienst werfen die Menschen Blumen auf den Leichenwagen, in dem Nawalnys Leichnam zum Borisow-Friedhof gefahren wird. Dabei skandiert die Menge neben dem Namen des Oppositionellen Sätze wie "Nein zum Krieg", "Liebe ist stärker als Angst" und "Putin ist ein Mörder".
Als der Sarg ins Grab gesenkt wird, hört man "My way" von Frank Sinatra und den Soundtrack von "Terminator 2". Zu diesem Zeitpunkt hat sich bereits eine lange Schlange am Eingang des Friedhofs gebildet. Viele Menschen wollen nach einer russischen Sitte persönlich eine Handvoll Erde auf Nawalnys Sarg werfen, bevor er zugeschüttet wird, um Sympathie und Dankbarkeit auszudrücken. Auch nach der offiziellen Schließung des Friedhofs dürfen die Menschen noch mehrere Stunden lang das Grab Nawalnys besuchen.
Einige russische Politiker sowie die Botschafter der USA und der EU erwiesen dem Oppositionspolitiker die letzte Ehre. Der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg, Jewgeni Roisman, brachte Blumen zu Nawalnys Grab. Er nannte den Putin-Kritiker einen orthodoxen "Märtyrer" und wünschte sich, dass der tote Oppositionelle in Zukunft als kanonischer Heiliger anerkannt wird. "Dafür hat er viel mehr Gründe geliefert als Nikolaus II.: Nawalny hat keine Menschen in den Tod geschickt, hat kein Geld der Menschen verschwendet", sagte Roisman und zog damit eine Parallele zu dem 1918 von den Bolschewiki ermordeten russischen Zaren Nikolaus II., der für die russisch-orthodoxe Kirche als Märtyrer und Heiliger gilt.
Der Politiker Boris Nadeschdin und die Journalistin Jekaterina Duntzowa kamen ebenfalls. Die beiden Kritiker des Ukraine-Kriegs wollten für das Präsidentenamt 2024 kandidieren und wurden daran gehindert. Über Nawalny schrieb Duntzowa in ihrem Telegram-Kanal: "Er wird den Frühling nie wieder sehen, denn hier, wo er weggegangen ist, hat er den Winter und den Dauerfrost des Polarkreises bekommen, und dort, wo er hingeht, wird es nur ewigen Sommer geben." Sie fügte hinzu, dass die Erinnerung an Nawalny "in der Geschichte bleiben wird".
Ein Symbol für Millionen Russen
Im Gespräch mit der DW bezeichnete Nadeschdin den Tod Nawalnys als Tragödie und betonte, dass sein Name für Millionen von Russen nach wie vor "symbolisch" sei: "Schauen Sie sich die Schlange an, die hier ansteht, um sich von ihm zu verabschieden." Nadeschdin sagte, er habe Alexej Nawalny zu Beginn seiner politischen Karriere gekannt, als dieser in den 2000er Jahren für die Werbekampagne der Partei "Union der Rechten Kräfte” verantwortlich war und selbst der liberalen Partei "Jabloko” angehörte.
Dennoch kamen weder "Jabloko"-Gründer Grigori Jawlinski noch der derzeitige Parteivorsitzende Nikolai Rybakow zur Beisetzung ihres ehemaligen Parteikollegen - und das obwohl "Jabloko" zuvor die derzeitige Regierung in Russland für den Tod von Nawalny verantwortlich gemacht hatte.
Nur Andreij Morew, stellvertretender Vorsitzender der Moskauer Sektion von "Jabloko” kam zum Friedhof. Auf dem Heimweg wurde er von der Polizei festgehalten und später mit der Begründung freigelassen, er habe Ähnlichkeit mit einem gesuchten Verbrecher gehabt.
Menschenrechtsaktivisten schließen nicht aus, dass es später zu "stillen" Repressionen kommen könnte: Die Identität der Trauernden kann mit Hilfe eines Gesichtserkennungssystems festgestellt werden, das extra zur Beisetzung installiert wurde. So war es beispielsweise auch am 27. Februar, als die Polizei drei Teilnehmer einer Nawalny-Gedenkveranstaltung zuhause aufsuchte und festnahm. Laut dem Menschenrechtsverein "OVD-Info" wurden im Jahr 2021 mit Hilfe von Außenüberwachungskameras 454 Menschen nachträglich festgenommen, von denen 363 mit den Aktionen zur Unterstützung von Alexej Nawalny in Verbindung gebracht wurden.